Vermächtnis
hat die Landnutzung unter solchen Bedingungen der nichtexklusiven Territorien in der Regel nicht die extreme Form, dass jeder überall alles tun darf. Vielmehr identifiziert sich auch hier in der Regel jede Gruppe mit einem Kerngebiet. Anders als in Gesellschaften mit exklusiver Landnutzung, wo wie bei den Dani ein Niemandsland von Wachttürmen geschützt wird, gibt es hier keine anerkannten Grenzen, sondern die Eigentumsrechte am Land werden immer unbestimmter, je weiter man sich vom Kerngebiet einer Gruppe entfernt. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass Nachbargruppen in Gesellschaften mit nichtexklusiver Landnutzung häufiger und aus vielfältigeren Gründen die Erlaubnis erhalten, das Territorium des jeweils anderen zu durchqueren, insbesondere wenn es darum geht, zu bestimmten Jahreszeiten oder in bestimmten Jahren Nahrung und Wasser zu beschaffen. Wer Bedarf hat, erhält ohne weiteres die Erlaubnis, das Territorium des Nachbarn zu betreten; damit wird das Ganze zu einer Übereinkunft auf Gegenseitigkeit, die beiden Seiten nützt.
Im Detail beschrieben wurde der nichtexklusive Landbesitz am Beispiel der !Kung, eines Volkes von Jägern und Sammlern im Gebiet von NyaeNyae in der Wüste Kalahari (Abb. 6 ) . Als man sie in den 1950 er Jahren studierte, gliederten sich die !Kung in 19 Horden aus acht bis 42 Personen, die jeweils ein eigenes »Territorium« (n!ore genannt) mit einer Fläche zwischen 260 und 650 Quadratkilometern besaßen. Die Grenzen zwischen den n!ores waren aber verschwommen: Wenn Anthropologen und !Kung-Informanten gemeinsam vom Lager der Informanten zum nächsten n!ore gingen und sich dabei weiter vom Zentrum ihres eigenen Gebietes entfernten, wurden die Informanten zunehmend unsicher oder uneinig in der Frage, in welchem n!ore man sich denn nun befand. Wachtürme oder Wege auf Bergrücken als Markierung der n!ore-Grenzen gab es nicht.
Die n!ore der !Kung sind nichtexklusiv besiedelt, weil es sowohl notwendig als auch möglich ist, die Ressourcen in den Territorien zu teilen. Die Notwendigkeit besteht, weil Wasser in der Kalahari knapp ist und jede Horde sich möglichst lange an einer Wasserstelle aufhalten muss. Aber die Schwankungen des Niederschlages von Jahr zu Jahr lassen sich nicht voraussagen. In der Trockenzeit trocknen viele Wasserstellen aus. Nur zwei solche Stellen versiegten im Untersuchungszeitraum nie; drei weitere waren in der Regel das ganze Jahr über verfügbar, versiegten aber in einem Jahr; fünf hielten nur gelegentlich über die Trockenzeit hinweg durch; und 50 waren nur jahreszeitlich mit Wasser gefüllt und trockneten jedes Jahr eine Zeitlang aus. In der Trockenzeit versammeln sich deshalb bis zu 200 Personen an einer ganzjährigen Wasserstelle; ihre Eigentümer geben die Erlaubnis und dürfen im Gegenzug andere n!ore besuchen und deren Ressourcen nutzen, wenn sie reichlich verfügbar sind. Die Wasserverhältnisse machen es also
notwendig
, dass die !Kung nichtexklusive Territorien haben: Es wäre sinnlos, den alleinigen Anspruch auf ein Gebiet zu erheben, wenn dort das Wasser ausgeht und das Territorium nutzlos wird. Umgekehrt macht die jahreszeitliche Überfülle mancher Ressourcen die Nichtexklusivität auch
möglich
: Es ergibt keinen Sinn, potentiell nützliche Verbündete aus dem eigenen Territorium zu vertreiben und sie damit zu verprellen, wenn dieses Territorium mehr Lebensmittel produziert, als man selbst verbrauchen kann. Das gilt insbesondere für die Mongongo-Nüsse, ein Grundnahrungsmittel, das zu manchen Jahreszeiten in gewaltigen Mengen zur Verfügung steht, aber auch für andere jahreszeitliche Nutzpflanzen wie wilde Bohnen oder Melonen.
Angeblich dürfen alle Mitglieder aller Horden in der Region NyaeNyae überall jagen, auch außerhalb des eigenen n!ore. Wer aber außerhalb des eigenen Territoriums ein Tier erlegt und dann ein Mitglied der Horde trifft, der der betreffende n!ore gehört, sollte diesem ein Stück Fleisch schenken. Der freie Zugang zu den Jagdrevieren gilt aber nicht für !Kung aus weiter entfernten Gebieten. Allgemein gesagt, erhalten benachbarte !Kung-Horden ohne weiteres die Erlaubnis, den n!ore des jeweils anderen auch zu sonstigen Zwecken zu nutzen, beispielsweise zur Beschaffung von Wasser, Nüssen, Bohnen und Melonen – aber man muss vorher um Erlaubnis bitten, und damit verbindet sich auch die Verpflichtung, den Gastgebern im Gegenzug später auch einen Besuch des eigenen n!ore zu gestatten. Wenn jemand nicht um
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