Vermächtnis
Ritualen, Omen, Magie, Tabus, Aberglauben und Schamanen. Wenn sie an die Wirksamkeit solcher Maßnahmen glauben, werden sie wie wir weniger ängstlich, ruhiger und konzentrierter.
Ein Beispiel studierte der Anthropologe Bronislaw Malinowski auf den Trobriandinseln in der Nähe von Neuguinea. Dort fangen Dorfbewohner ihre Fische an zweierlei Stellen, die unterschiedliche Fischereimethoden erfordern: In der geschützten, ruhigen inneren Lagune wirft man Gift ins Wasser und holt dann die betäubten oder toten Fische einfach heraus; auf offener See muss man Fische mit Speeren oder Netzen fangen, während man mit einem Kanu durch Wellen und Brandung paddelt. In der Lagune ist die Fischerei ungefährlich, einfach und mit berechenbaren Erträgen verbunden; auf dem offenen Meer ist sie gefährlich und unberechenbar – kommt zum richtigen Zeitpunkt gerade ein Fischschwarm an der richtigen Stelle vorüber, liefert sie üppige Beute, trifft der Fischer aber an dem fraglichen Tag nicht auf einen Schwarm, ist die Ausbeute gering und das persönliche Risiko groß. Bevor die Inselbewohner sich zum Fischen auf das offene Meer begeben, vollziehen sie komplizierte magische Rituale, die ihnen Sicherheit und Erfolg sichern sollen, denn selbst wenn sie aufgrund ihrer Erfahrungen bestmöglich geplant haben, bleiben viele Zweifel bestehen. Die Fischerei in der Lagune verbindet sich nicht mit Magie: Man fährt einfach hinaus und tut es, ohne dass im Zusammenhang mit dem vorhersehbaren Ergebnis Unsicherheit oder Angst besteht.
Ein weiteres Beispiel bieten die Jäger der !Kung, die mit ihrer professionellen Einstellung scheinbar nichts dem Zufall überlassen. Bei ihnen spielen schon kleine Jungen, die gerade eben laufen können, mit winzigen Pfeilen und Bogen, und wenn sie in die Pubertät kommen, gehen sie bereits mit ihren Vätern auf die Jagd. Abends am Lagerfeuer erzählen die Männer immer wieder von früheren Jagden, hören gegenseitig Geschichten darüber, wer in den letzten Tagen wo welche Tiere gesehen hat, und planen entsprechend die nächste Jagd. Beim Jagen selbst achten sie ständig aufmerksam auf den Anblick und die Geräusche von Vögeln und anderen Tieren, deren Verhalten auf die Anwesenheit von Beute hindeuten könnte. Außerdem versuchen sie durch Untersuchung von Fährten herauszufinden, was für ein Tier vorübergekommen ist, wo man es jetzt wahrscheinlich finden kann und in welche Richtung es sich bewegt. Man könnte meinen, solche Meister der Jagd in der Wüste hätten Magie nicht nötig. Aber wenn die Jäger sich morgens auf den Weg machen, ist in Wirklichkeit immer eine starke, angsteinflößende Unsicherheit im Spiel, weil man nicht weiß, auf welche Beute man an diesem Tag treffen wird.
Um mit dieser Angst fertig zu werden, befragen manche !Kung-Männer besondere Orakelscheiben, die angeblich prophezeien können, welche Richtung am vielversprechendsten ist und auf welche Beute man sich einstellen soll. Eine solche Scheibe besteht aus jeweils fünf oder sechs dünnen Kreise aus Antilopenleder mit einem abgestuften Durchmesser von fünf bis acht Zentimetern, die jeweils einen eigenen Namen tragen und mit Oben und Unten gekennzeichnet sind. Jeder Mann besitzt ein solches Set. Einer stapelt die Scheiben mit der größten nach oben auf seine linke Handfläche, schüttelt sie und bläst darauf, stellt mit lauter, ritueller Stimme eine Frage und wirft die Scheiben dann auf ein Stück Stoff, das auf dem Boden ausgebreitet wurde. Der Wahrsager deutet dann die Verteilung der Scheiben auf dem Boden unter anderem danach, ob sie sich überlappen oder nicht und ob sie mit der Oberseite nach oben oder nach unten gelandet sind. Die Interpretation des Musters unterliegt anscheinend kaum festen Regeln; nur wenn die Scheiben Nummer 1 bis 4 mit der Oberseite nach unten landen, wird damit die erfolgreiche Tötung eines Wildtieres prophezeit.
Natürlich erfahren die !Kung von den Scheiben nichts, was sie nicht schon wüssten. Die Männer der !Kung besitzen so umfassende Kenntnisse über das Verhalten von Tieren, dass ihr Jagdplan sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als erfolgreich erweisen wird, ganz gleich, wie die Scheiben gefallen sind. Die Verteilung der Scheiben wird vielmehr anscheinend wie ein Rorschach-Test phantasievoll interpretiert und dient dazu, die Männer psychisch auf den Jagdtag vorzubereiten. Nützlich ist das Ritual mit den Scheiben, weil es ihnen hilft, sich auf die Marschrichtung zu einigen; irgendeine Richtung
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