Vermächtnis
dass uns selbst das Gleiche geschieht, macht Angst. Die meisten Religionen bieten Trost, indem sie letztlich die Realität des Todes leugnen und eine Art Jenseits für eine Seele postulieren, die angeblich mit dem Körper verbunden ist. Die Seele soll dann zusammen mit einer Kopie des Körpers an einen übernatürlichen Ort gelangen, der mit der Bezeichnung »Himmel« oder einem anderen Namen belegt wird; oder aber die Seele verwandelt sich in einen Vogel oder einen anderen Menschen auf Erden. Religionen, die von einem Jenseits sprechen, gehen oftmals noch einen Schritt weiter und leugnen auf diese Weise nicht nur den Tod, sondern sie vermitteln auch die Hoffnung, dass nach dem Tod etwas noch Besseres auf uns wartet: ein ewiges Leben, ein Wiedersehen mit geliebten Menschen, Sorgenfreiheit, Nektar und schöne Jungfrauen.
Neben dem Schmerz angesichts der Aussicht auf den Tod gibt es im Leben viele andere Schmerzen, für die Religion auf unterschiedliche Weise Trost bietet. Ein Weg besteht darin, Leid zu »erklären«, indem man behauptet, es sei kein sinnloses Zufallsereignis, sondern habe einen tieferen Sinn: Es solle beispielsweise prüfen, ob jemand des Jenseits würdig ist, oder für Sünden bestrafen, oder es war etwas Böses, das einem von einem schlechten Menschen angetan wurde, so dass man einen Zauberer bezahlen solle, der diesen bösen Menschen identifiziert und tötet. Ein weiterer Weg ist das Versprechen, Leiden würden im Jenseits belohnt: Ja, du hast viel gelitten, aber fürchte dich nicht, nach dem Tod wirst du belohnt. Ein dritter Weg ist das Versprechen, das Leiden werde im glücklichen Jenseits nicht nur wettgemacht, sondern diejenigen, die einem das Böse angetan haben, würden im Jenseits leiden. Während die Bestrafung der Feinde auf Erden nur in begrenztem Rahmen eine Rache darstellt und Befriedigung schafft, garantieren die ewigen, raffinierten Qualen, die sie nach dem Tod in Dantes Inferno erleiden werden, alle Rache und Befriedigung, nach der man sich jemals sehnen kann. Die Hölle hat eine Doppelfunktion: Sie tröstet, weil die Feinde zugrunde gerichtet werden, die wir selbst hier auf Erden nicht zugrunde richten konnten; und sie motiviert uns, den moralischen Geboten unserer Religion zu gehorchen, weil man uns droht, wir würden bei Fehlverhalten in die Hölle kommen. Das postulierte Jenseits löst also das Paradox der Theodizee (das Nebeneinander des Bösen und eines guten Gottes) auf, indem es erklärt, wir müssten uns keine Sorgen machen, weil alle Rechnungen später beglichen werden.
Diese tröstende Funktion der Religion muss in unserer Evolution bereits zu einem frühen Zeitpunkt entstanden sein, nämlich als wir gerade schlau genug waren und erkennen konnten, dass wir sterben werden, und als wir uns fragten, warum das Leben oft so schmerzhaft ist. Jäger und Sammler glauben häufig, sie würden nach dem Tod als Geister weiterleben. Diese Funktion erweiterte sich später aber stark mit dem Aufstieg der sogenannten weltabgewandten Religionen, die nicht nur behaupten, es gebe ein Jenseits, sondern außerdem erklären, dieses sei wichtiger und dauerhafter als das irdische Leben, und das übergeordnete Ziel des irdischen Lebens bestehe darin, Erlösung zu erlangen und sich auf das Jenseits vorzubereiten. Diese Weltabgewandtheit ist im Christentum, im Islam und in manchen Formen des Buddhismus stark ausgeprägt, kennzeichnet aber auch manche säkularen (das heißt nichtreligiösen) Philosophien, beispielsweise die von Platon. Solche Überzeugungen sind manchmal derart einleuchtend, dass religiöse Menschen das irdische Leben tatsächlich ablehnen. Das tun unter anderem Mönche und Nonnen, die in Orden gemeinsam wohnen: Sie leben, schlafen und essen getrennt von der säkularen Welt, gehen allerdings unter Umständen täglich in diese hinaus, um andere zu versorgen, zu lehren und zu predigen. Andere Orden jedoch isolieren sich so vollständig wie möglich von der säkularen Welt. Dazu gehören die Zisterzienser, deren großartige Abteien in Rieveaulx, Fountains Abbey und Jerveaulx die besterhaltenen Klosterruinen Englands sind, weil sie weit von Ortschaften entfernt errichtet wurden und deshalb weniger Plünderungen und Zweckentfremdungen erlebten, nachdem man sie aufgegeben hatte. Noch extremer war die Weltabgewandtheit einiger irischer Mönche, die sich als Einsiedler im ansonsten unbewohnten Island niederließen.
Kleingesellschaften legen auf Weltabgewandtheit, Erlösung und Jenseits
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