Vermächtnis
zu wählen und daran festzuhalten ist der Ablenkung durch Diskussionen vorzuziehen.
In unserer modernen Welt sind Gebete, Rituale und Magie weniger verbreitet, weil Wissenschaft und Kenntnisse für den Erfolg unserer Unternehmungen eine größere Rolle spielen. Dennoch bleibt vieles, was wir nicht unter Kontrolle haben, und es gibt viele Unternehmungen und Gefahren, bei denen auch Wissenschaft und Technologie keinen Erfolg garantieren. An dieser Stelle greifen auch wir auf Gebete, Opfer und Rituale zurück. Musterbeispiele aus jüngerer Zeit waren Gebete für die sichere Rückkehr von einer Seereise, für eine reichliche Ernte, für Kriegserfolg und insbesondere für die Heilung von Krankheiten. Wenn die Ärzte über einen Patienten nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Prognose abgeben können und insbesondere wenn sie einräumen, dass sie hilflos sind, beten die Menschen besonders häufig.
Der Zusammenhang zwischen Ritualen oder Gebeten auf der einen Seite und unsicheren Ergebnissen auf der anderen soll an zwei Einzelbeispielen deutlich gemacht werden. Glücksspieler vollziehen oftmals ihre eigenen, persönlichen Rituale, bevor sie den Würfel werfen, Schachspieler dagegen verzichten auf solche Rituale, bevor sie eine Figur bewegen. Der Grund: Würfelspiele unterliegen bekanntermaßen dem Zufall, beim Schach dagegen spielt der Zufall keine Rolle: Wenn man aufgrund eines Zuges die Partie verliert, hat man keine Entschuldigung – wenn ein Spieler die Reaktion des Gegners nicht vorausgesehen hat, war es ausschließlich seine eigene Schuld. Ähnlich verhält es sich mit Bauern, die einen Brunnen bohren und Grundwasser finden wollen: Im Westen von New Mexico, wo die komplizierten geologischen Verhältnisse für so starke Unterschiede in der Tiefe und Menge des Grundwassers sorgen, dass selbst professionelle Geologen aufgrund der Landschaft an der Oberfläche keine genauen Aussagen über Lage und Tiefe des Grundwassers machen können, ziehen sie häufig Wünschelrutengänger zu Rate. Im Panhandle von Texas dagegen, wo die grundwasserführende Schicht einheitlich in einer Tiefe von 42 Metern liegt, bohren die Bauern einfach in der Nähe der Stelle, an der das Wasser gebraucht wird, ein Loch bis in diese Tiefe; Wünschelrutengänger werden nicht gebraucht, die Methode ist allerdings bei den Menschen bekannt. Mit anderen Worten: Die Bauern in New Mexico und Würfelspieler kommen mit der mangelnden Vorhersehbarkeit zurecht, indem sie wie die Meeresfischer von den Trobriandinseln oder die Jäger bei den !Kung auf Rituale zurückgreifen, während die Bauern im texanischen Panhandle und Schachspieler solche Rituale ebenso wie die Lagunenfischer von den Trobriandinseln nicht brauchen.
Kurz gesagt, sind religiöse (und auch nichtreligiöse) Rituale auch bei uns immer noch in Gebrauch und helfen uns, angesichts von Unsicherheit und Gefahren mit der Angst zurechtzukommen. Diese Funktion der Religion war aber in traditionellen Gesellschaften, die es mit größeren Unsicherheiten und Gefahren zu tun haben als die modernen, westlich geprägten Gesellschaften, weitaus wichtiger.
Trost
Wenden wir uns nun einer Funktion der Religion zu, die in den letzten 10 000 Jahren immer wichtiger geworden sein muss: Trost, Hoffnung und einen Sinn zu spenden, wenn das Leben schwierig ist. Sie tröstet uns beispielsweise angesichts der Aussicht auf unseren eigenen Tod und auf den Tod geliebter Menschen. Manche Säugetiere – ein erstaunliches Beispiel sind die Elefanten – erkennen offenbar den Tod eines engen Gefährten und trauern um ihn. Wir haben aber keinen Grund zu der Annahme, dass irgendein Tier mit Ausnahme von uns Menschen weiß, dass es selbst eines Tages sterben wird. Dass uns dieses Schicksal bevorsteht, musste den Menschen zwangsläufig klarwerden, als sie ein Bewusstsein für sich selbst erwarben, besser vernünftig nachdenken konnten und das Erlebnis, andere Mitglieder der Horde sterben zu sehen, verallgemeinerten. Nahezu alle Menschengruppen, die man beobachtet und archäologisch erforscht hat, lassen das Wissen um die Bedeutung des Todes erkennen: Sie werfen ihre Verstorbenen nicht einfach nur weg, sondern tun ihnen durch Bestattung, Einäscherung, Einwickeln, Mumifizierung, Kochen oder mit anderen Mitteln etwas Gutes.
Einen Menschen, der vor kurzem noch warm war, sich bewegte, sprach und sich verteidigen konnte, jetzt kalt, unbeweglich, schweigend und hilflos zu erleben, ist beängstigend. Auch die Vorstellung,
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