Vermächtnis

schützen konnten, aber sie konnten nichts tun, um ihre Häuser zu schützen. Realistisch betrachtet, war die Bedrohung durch die Raketen weder vorhersehbar noch kontrollierbar. Dennoch rezitierten zwei Drittel der von Sosis und Handwerker befragten Frauen jeden Tag Psalmen, um mit dem Stress der Raketenangriffe besser umgehen zu können. Als sie gefragt worden, warum sie es taten, lautete eine häufige Antwort: Sie fühlten sich gezwungen, »
irgendetwas
zu tun«, anstatt untätig zu bleiben. Das Rezitieren von Psalmen lenkte zwar die Raketen nicht ab, aber es verschaffte denen, die es taten, ein Gefühl, als würden sie etwas unternehmen und so die Kontrolle behalten. (Natürlich gaben sie selbst nicht diese Erklärung; sie glaubten tatsächlich, das Aufsagen von Psalmen könne das eigene Haus vor der Zerstörung durch eine Rakete bewahren.) Im Vergleich zu Frauen aus derselben Gemeinde, die keine Psalmen rezitierten, konnten diejenigen, die es taten, leichter einschlafen, sie hatten weniger Konzentrationsschwierigkeiten, neigten weniger zu Wutausbrüchen und empfanden weniger Angst, Nervosität, Anspannung und Bedrückung. Sie hatten also tatsächlich einen Nutzen, denn sie verminderten das Risiko, dass die natürliche Angst vor unkontrollierbaren Gefahren sie zu törichten Handlungen veranlasste und damit in Gefahr brachte. Das Prinzip kennt jeder, der schon einmal in einer unvorhersehbaren, unkontrollierbaren Gefahrensituation war: Wenn wir unsere Angst nicht beherrschen können, neigen wir dazu, unsere Probleme durch Gedankenlosigkeit zu verstärken.
    Diese Funktion der Religion hatte ihre größte Bedeutung bereits in den frühen religiösen Gesellschaften; sie wurde jedoch weniger wichtig, als die Gesellschaften immer mehr die Kontrolle über das Leben ihrer Mitglieder übernahmen, als Staatsregierungen stärker wurden, während die Häufigkeit von Gewalttaten und anderen Gefahren abnahm, als Staaten zunehmend in der Lage waren, Hungersnöte durch die Verteilung eingelagerter Lebensmittel abzuwenden und als (in den letzten beiden Jahrhunderten) die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie sich verstärkte. Dass traditionelle Völker im Wesentlichen hilflos waren, stimmt allerdings wohl kaum. Sie beeindrucken uns vielmehr mit ihrer Fähigkeit, ihre Beobachtungen und Erfahrung zu nutzen, um so dem Zufall möglichst wenig Spielraum zu lassen. Die Bewohner Neuguineas und andere traditionelle Bauern kennen beispielsweise mehrere Dutzend Sorten von Süßkartoffeln und anderen Nutzpflanzen; sie wissen, wo und wie man jede einzelne davon am besten anbaut und wie man Unkraut beseitigt, düngt, mulcht und bewässert. Wenn !Kung-Männer und andere Jäger auf die Jagd gehen, studieren und interpretieren sie Tierfährten, schätzen damit Zahl, Entfernung, Geschwindigkeit und Wanderungsrichtung ihrer Beutetiere ab und beobachten das Verhalten anderer Tierarten, das ihnen Anhaltspunkte für die Gegenwart der Beute liefert. Fischer und Seeleute können auch ohne Kompass und andere Instrumente navigieren, wenn sie über die Bewegungen von Sonne und Sternen, Wind, Meeresströmungen, das an Wolken reflektierte Licht, Seevögel, Biolumineszenz im Ozean und andere Anhaltspunkte für die Position Bescheid wissen. Alle Völker ergreifen Verteidigungsmaßnahmen und sind aufmerksam gegenüber feindlichen Angriffen; sie bilden Bündnisse und planen Angriffe aus dem Hinterhalt, um dem Feind zuvorzukommen.
    Aber die Einflussmöglichkeiten sind für traditionelle Völker enger begrenzt als für uns in der modernen Welt, und große Bereiche entziehen sich ihrer Kontrolle. Die Ernteerträge werden durch unberechenbare Dürreperioden, Regen, Hagel, Sturm, Kälte und Schadinsekten beeinflusst. Für die Wanderungen einzelner Tiere spielt der Zufall eine große Rolle. Die meisten Krankheiten entziehen sich wegen der begrenzten Kenntnisse der traditionellen Medizin jeglichem Einfluss. Wie die israelischen Frauen, die Psalmen rezitierten, aber die Flugbahn der Raketen nicht beeinflussen konnten, so bleibt auch für traditionelle Völker vieles außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten, nachdem sie alles in ihrer Macht Stehende getan haben. Wie wir lehnen sie sich dagegen auf, untätig zu bleiben. Wie wir sind sie dann ängstlich, fühlen sich hilflos, neigen zu Fehlern und sind nicht in der Lage, sich bestmöglich anzustrengen. Deshalb suchen traditionelle Völker – und oft auch wir in unserer modernen Welt – Zuflucht bei Gebeten,