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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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die etwas Ähnliches wie den folgenden Glaubenssatz vertreten würde: »Es gibt nur einen Gott! Er ist allmächtig. Aber er existiert nur mittwochs.« Die religiös-übernatürlichen Wesen, an die wir glauben, ähneln vielmehr überraschend stark den Menschen, Tieren oder anderen natürlichen Objekten, nur haben sie überlegene Kräfte: Sie sind weitsichtiger, leben länger, sind stärker, kommen schneller von Ort zu Ort, können die Zukunft voraussagen, können verschiedene Gestalten annehmen, können durch Wände gehen und so weiter. In anderer Hinsicht verhalten sich Götter und Geister wie Menschen. Der Gott des Alten Testaments wurde zornig, die Götter und Göttinnen der Griechen waren eifersüchtig, aßen, tranken und waren sexuell aktiv. Die Kräfte, mit denen Götter die Menschen übertreffen, sind Projektionen unserer eigenen Machtphantasien; Götter können Dinge tun, von denen wir selbst uns wünschen, wir wären ebenfalls dazu in der Lage. Ich habe tatsächlich Phantasien, in denen ich Blitze schleudere, die böse Menschen vernichten, und vermutlich malen viele andere Menschen sich Ähnliches aus, aber ich habe mir nie vorgestellt, ich würde nur mittwochs existieren. Deshalb wundert es mich nicht, dass die Götter in vielen Religionen als zerschmetternde Bösewichter dargestellt werden, während gleichzeitig keine Religion davon träumt, nur mittwochs zu existieren. Der religiöse Glaube an Übernatürliches ist also irrational, aber emotional plausibel und zufriedenstellend. Deshalb ist er so glaubwürdig, obwohl er gleichzeitig aus rationaler Sicht nicht plausibel ist.
    Die Erklärungsfunktion der Religion
    Während der Geschichte der menschlichen Gesellschaften haben sich die Funktionen der Religion verändert. Zwei ihrer ältesten Funktionen sind unter den Bürgern der heutigen, westlich geprägten Gesellschaften stark in den Hintergrund getreten oder nahezu völlig verschwunden. Umgekehrt gab es manche wichtigen Funktionen, die sie heute erfüllen, während sie in den Kleingesellschaften der Jäger und Sammler oder Bauern kaum eine Rolle spielten. Vier Funktionen, die früher schwach oder nicht vorhanden waren, erlangten später große Bedeutung und sind heute wieder im Verschwinden begriffen. Dieser Funktionswechsel der Religion im Laufe ihrer Evolution ähnelt dem Funktionswechsel vieler biologischer Strukturen (beispielsweise der elektrischen Organe von Fischen) und sozialen Organisationsformen während der biologischen Entwicklungsgeschichte.
    Ich möchte jetzt darlegen, was verschiedene Experten als die sieben Hauptfunktionen von Religionen bezeichnet haben, und im Anschluss daran die Frage stellen, ob Religion in Zukunft überflüssig werden wird oder ob sie voraussichtlich weiterlebt, und wenn ja, welche Funktionen ihr dieses Weiterleben sichern werden. Die sieben Funktionen möchte ich ganz grob in der mutmaßlichen Reihenfolge ihres Auftretens und Verschwindens im Laufe der gesellschaftlichen Evolution betrachten. Ich beginne mit Funktionen, die früher in der Menschheitsgeschichte eine große Bedeutung hatten, jetzt aber weniger bedeutsam sind, und am Schluss stehen Funktionen, die ursprünglich fehlten, in jüngerer Zeit oder heute aber an Wichtigkeit gewonnen haben.
    Zu den ersten Funktionen der Religion gehörte die Erklärung. Vorwissenschaftliche traditionelle Völker haben Erklärungen für alles, was ihnen begegnet, aber natürlich verfügen sie nicht über die prophetische Fähigkeit, zwischen Erklärungen, die unter Wissenschaftlern heute als natürlich und wissenschaftlich gelten, und solchen, die Wissenschaftler heute für übernatürlich und religiös halten, zu unterscheiden. Für traditionelle Völker handelt es sich in allen Fällen um Erklärungen, und jene, die später als Religion eingestuft wurden, sind keine eigene Kategorie. So haben beispielsweise die Gesellschaften, in denen ich in Neuguinea gelebt habe, für das Verhalten von Vögeln viele Erklärungen, die auch ein moderner Ornithologe als scharfsichtig und zutreffend bezeichnen würde (zum Beispiel was die vielen Funktionen der Rufe von Vögel angeht); andere Erklärungen dagegen erkennen Ornithologen heute nicht mehr an, sondern sie tun sie als übernatürlich ab (beispielsweise dass es sich beim Gesang bestimmter Vogelarten um die Stimmen Verstorbener handelt, die sich in Vögel verwandelt haben). Schöpfungsmythen wie die der Bewohner Neuguineas und des Ersten Buches Mose sind weit verbreitet und sollen die

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