Vermächtnis
weniger Wert als große, kompliziertere und neuere Gesellschaften. Dieser Trend hat mindestens drei Gründe. Erstens haben gesellschaftliche Schichtenbildung und Ungleichheit auf dem Weg von den durch Gleichberechtigung geprägten Kleingesellschaften zu komplexen Gesellschaften mit Königen, Adel, Elite, Reichen und Mitgliedern hochrangiger Clans, die sich von der Masse der armen Bauern und Arbeiter abhoben, zugenommen. Wenn alle anderen im Umfeld genauso leiden wie man selbst, braucht man keine Ungerechtigkeit zu erklären, und es gibt kein Vorbild für das gute Leben, nach dem man streben könnte. Dagegen erfordert die Beobachtung, dass manche Menschen ein viel komfortableres Leben führen und andere beherrschen können, eine Menge Erklärungen und Trost, und das bietet die Religion.
Ein zweiter Grund, warum große, komplexe Gesellschaften größeres Gewicht auf Trost und Jenseits legen als kleine, findet sich in archäologischen und ethnographischen Befunden: Als Jäger und Sammler zu Bauern wurden und sich in größeren Gesellschaften zusammenschlossen, wurde das Leben tatsächlich schwieriger. Mit dem Übergang zur Landwirtschaft wuchs die durchschnittliche Zahl der täglichen Arbeitsstunden, die Ernährung verschlechterte sich, Infektionskrankheiten und körperlicher Verschleiß nahmen zu, und die Lebenserwartung wurde kürzer. Noch schlechter wurden die Bedingungen während der industriellen Revolution für das Proletariat in den Städten: Die Arbeitstage wurden länger, und Hygiene, Gesundheit und Annehmlichkeiten verminderten sich. Und wie wir im Folgenden noch genauer erörtern werden, besitzen komplexe, bevölkerungsreiche Gesellschaften einen stärker formalisierten Moralkodex, das Schwarzweiß von Gut und Böse wird stärker betont, und entsprechend größer werden die Probleme der Theodizee: Warum kommen Gesetzesbrecher und die übrige Welt ungestraft davon, wenn sie zu uns grausam sind, wo wir selbst uns doch tugendhaft verhalten und die Gesetze befolgen?
Alle drei Gründe machen deutlich, warum die Trostfunktion der Religion in bevölkerungsreichen Gesellschaften der jüngeren Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen hat: Es liegt einfach daran, dass diese Gesellschaften uns mehr schlechte Dinge antun, derentwegen wir uns nach Trost sehnen. Diese Trostfunktion der Religion ist eine Erklärung für die häufige Beobachtung, dass ein unglückliches Schicksal die Menschen religiöser macht und dass ärmere soziale Schichten, Regionen und Staaten in der Regel religiöser sind als reichere: Sie brauchen mehr Trost. Dies zeigt sich an den Staaten der heutigen Welt: Der Anteil der Bürger, die angeben, Religion sei ein wichtiger Teil ihres täglichen Lebens, liegt in den meisten Staaten mit einem Pro-Kopf- BIP von unter 10 000 Dollar bei 80 bis 99 Prozent, in den meisten Staaten mit einem Pro-Kopf- BIP von über 30 000 Dollar dagegen nur bei 17 bis 43 Prozent. (Damit ist allerdings nicht das starke religiöse Engagement in den reichen Vereinigten Staaten erklärt, von dem im nächsten Absatz noch genauer die Rede sein wird.) Selbst in den Vereinigten Staaten gibt es offenbar in ärmeren Regionen mehr Kirchen und Kirchenbesucher als in reicheren, und das, obwohl in reicheren Regionen mehr Mittel und Freizeit zur Verfügung stehen, um Kirchen zu bauen und zu besuchen. In der amerikanischen Gesellschaft finden sich das höchste Maß an Religionszugehörigkeit und die radikalsten christlichen Gemeinschaften in den an den Rand gedrängten, unterprivilegierten gesellschaftlichen Gruppen.
Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, dass die Religion in der modernen Welt erhalten geblieben ist oder sogar an Bedeutung gewonnen hat, obwohl die beiden Faktoren, die ich als Gegenkräfte zur Religion bereits erwähnt habe, immer wichtiger geworden sind: die Wissenschaft, die der Religion ihre ursprüngliche Erklärungsfunktion streitig macht, und unsere Fähigkeit, mit technischen und gesellschaftlichen Mitteln die Gefahren zu vermindern, die sich unserer Kontrolle entziehen und damit den Anlass zu Gebeten geben. Dass dennoch nichts für ein Aussterben der Religionen spricht, dürfte an unserer unverminderten Suche nach einem »Sinn« liegen. Wir Menschen haben immer einen Sinn in unserem Leben gesucht, das uns ansonsten sinnlos, zwecklos und flüchtig erscheint, aber auch den Sinn in einer Welt voller unvorhersehbarer, unglückseliger Ereignisse. Nun kommt die Wissenschaft daher und scheint zu sagen,
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