Vermächtnis
Existenz des Universums und der Menschen sowie die Vielfalt der Sprachen erklären. Die alten Griechen, die für viele Phänomene zutreffende wissenschaftliche Erklärungen fanden, beriefen sich fälschlich auf Götter als übernatürliche Akteure, um damit Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Gezeiten, Wind und Regen zu erklären. Kreationisten und die Mehrheit der heutigen US -Amerikaner berufen sich immer noch auf Gott als »erste Ursache«, die das Universum und seine Gesetze erschaffen hat und damit eine Erklärung für ihre Existenz darstellt; außerdem soll Gott auch alle Pflanzen- und Tierarten einschließlich des Menschen erschaffen haben. Mir ist aber nicht bekannt, dass Kreationisten auch jeden Sonnenaufgang, Ebbe und Flut oder den Wind unter Berufung auf Gott erklären. Viele säkulare Menschen unserer Zeit führen zwar den Ursprung und die Gesetze des Universums auf Gott zurück, erkennen aber an, dass das einmal erschaffene Universum seither ohne oder nahezu ohne göttliche Eingriffe funktioniert.
In der modernen westlichen Gesellschaft wurde die ursprüngliche Erklärungsfunktion der Religion zunehmend von der Wissenschaft vereinnahmt. Die Ursprünge des Universums, wie wir es kennen, werden heute auf den Urknall und die anschließend wirksamen Gesetze der Physik zurückgeführt. Die heutige Sprachenvielfalt erklären wir nicht mehr mit Mythen wie dem Turmbau zu Babel oder dem Reißen der Lianen, die den Eisenholzbaum der Neuguineer festhielten; als angemessene Erklärung gelten heute vielmehr die beobachteten historischen Prozesse des Sprachwandels, die ich in Kapitel 10 genauer erörtern werde. Erklärungen für Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und Gezeiten überlassen wir den Astronomen, und die Erklärung von Wind und Regen fällt ins Fachgebiet der Meteorologen. Die Gesänge der Vögel werden von der Verhaltensforschung erklärt, und die Interpretation der Ursprünge aller Pflanzen- und Tierarten einschließlich der Spezies Mensch überlässt man den Evolutionsbiologen.
Für viele moderne Wissenschaftler ist »Gott als erste Ursache« die letzte Bastion religiöser Erklärungen: Die Wissenschaft hat anscheinend nichts darüber zu sagen, warum das Universum überhaupt existiert. Aus meinem ersten Studienjahr 1955 am Harvard College erinnere ich mich an den großen Theologen Paul Tillich, der die hyperrationalen Studienanfänger in seinem Seminar mit der Bitte herausforderte, eine wissenschaftliche Antwort auf eine einfache Frage zu geben: »Warum gibt es etwas, wo es genauso gut nichts geben könnte?« Keiner meiner Studienkollegen, die im Hauptfach Naturwissenschaften studierten, konnte etwas erwidern. Auf Tillichs eigene Antwort »Gott« hätten sie allerdings eingewandt, dass diese nur darin bestehe, der fehlenden Antwort einen Namen zu geben. Tatsächlich arbeiten Wissenschaftler heute auch an Tillichs Frage, und sie haben Antworten vorgeschlagen.
Entschärfung von Angst
Als Nächstes möchte ich eine Funktion der Religion erörtern, die in den frühen Gesellschaften vermutlich die wichtigste war: Religion entschärfte unsere Ängstlichkeit gegenüber Problemen und Gefahren, die sich unserer Kontrolle entzogen. Wenn Menschen alles getan haben, was realistischerweise in ihrer Macht steht, greifen sie mit größter Wahrscheinlichkeit auf Gebete, Rituale, Zeremonien, Spenden für die Götter, die Befragung von Orakeln und Schamanen, das Lesen von Omen, die Beachtung von Tabus und die Ausführung von Magie zurück. Alle diese Maßnahmen sind aus wissenschaftlicher Sicht wirkungslos, was das Erreichen des erwünschten Ziels angeht. Wenn wir aber die Fiktion aufrechterhalten und überzeugt sind, dass wir nach wie vor etwas tun, nicht hilflos sind und nicht aufgegeben haben, fühlen wir uns zumindest so, als hätten wir das Sagen; wir sind weniger ängstlich und können uns weiterhin so gut wie möglich Mühe geben.
Sehr deutlich wird dieses Streben nach der Linderung von Hilflosigkeitsgefühlen an einer Studie der Anthropologen Richard Sosis und W. Penn Handwerker an religiösen israelischen Frauen. Während des Libanonkrieges von 2006 schoss die Hisbollah Katjuscha-Raketen auf die nordisraelische Region Galiläa ab. Insbesondere die Ortschaft Tsfat und ihre Umgebung wurden jeden Tag von mehreren Dutzend Flugkörpern getroffen. Während die Geschosse unterwegs waren, wurden die Bewohner von Tsfat zwar durch Sirenen gewarnt, so dass sie sich in bombensichere Bunker begeben und so ihr eigenes Leben
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