Vermächtnis
richtig ist, was falsch ist und wie man sich verhalten soll. Diese Verbindung zwischen Religion und Moral ist aber insbesondere im Hinblick auf das Verhalten gegenüber Fremden in den Gesellschaften in Neuguinea, mit denen ich Erfahrungen habe, schwächer oder überhaupt nicht vorhanden. Stattdessen hängen soziale Verpflichtungen stark von Beziehungen ab. Da eine Horde nur einige Dutzend und ein Stamm einige hundert Menschen umfasst, kennt jeder alle anderen und ihre Beziehungen. Jeder hat unterschiedliche Verpflichtungen gegenüber verschiedenen Blutsverwandten, angeheirateten Verwandten, den Mitgliedern des eigenen Clans und den Mitbewohnern des Dorfes, die zu einem anderen Clan gehören.
Solche Beziehungen bestimmen zum Beispiel darüber, ob man über Menschen mit ihren Namen sprechen oder sie heiraten darf oder ob man verlangen kann, dass sie Lebensmittel und Haus mit einem teilen. Wenn zwei Stammesmitglieder eine Schlägerei anfangen, sind alle anderen mit beiden verwandt oder kennen sie und zerren sie auseinander. Das Problem, sich gegenüber unbekannten Personen friedlich verhalten zu müssen, ergibt sich nicht, denn die einzigen unbekannten Personen sind Angehörige feindlicher Stämme. Sollte man zufällig einen Unbekannten im Wald treffen, versucht man natürlich, ihn entweder umzubringen oder wegzulaufen; unsere moderne Sitte, einfach »Hallo« zu sagen und eine friedliche Unterhaltung anzufangen, wäre Selbstmord.
Vor 7500 Jahren ergab sich dann ein neues Problem. Zu dieser Zeit entwickelten sich manche Stammesgesellschaften zu Häuptlingstümern mit Tausenden von Mitgliedern – so viele Menschen kann kein Einzelner mit Namen und Beziehungsverhältnissen kennen. Die entstehenden Häuptlingstümer und Staaten waren stark durch Instabilität gefährdet, weil die alten Verhaltensregeln der Stämme nicht mehr ausreichten. Wenn jetzt jemand ein unbekanntes Mitglied des eigenen Häuptlingstums traf und nach den alten Verhaltensregeln mit ihm kämpfte, war eine große Schlägerei die Folge, weil die Verwandten beider Beteiligter diesen zu Hilfe eilten. Kam jemand in einer solchen Schlägerei ums Leben, war das für die Angehörigen des Opfers ein Anlass, aus Rache einen Angehörigen des Mörders zu töten. Wie konnte man die Gesellschaft angesichts einer unaufhörlichen Orgie von Schlägereien und Rachemorden vor dem Zusammenbruch retten?
Die Lösung für dieses Dilemma großer Gesellschaften finden wir in unserer eigenen Gesellschaft, und sie ist auch für alle Häuptlingstümer und frühen Staaten, über die wir etwas wissen, dokumentiert. Für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten Regeln des friedlichen Verhaltens, ganz gleich, ob man den Menschen, mit dem man zusammentrifft, kennt oder nicht. Durchgesetzt werden die Regeln von den politischen Führungsgestalten (Häuptlingen oder Königen) und ihren Beauftragten, die zur Rechtfertigung der Regeln eine neue Funktion der Religion anführen. Die Götter oder übernatürlichen Kräfte haben die Regeln angeblich erlassen und in Form eines Moralkodex festgeschrieben. Die Menschen lernen von Kindheit an, den Regeln zu gehorchen, und müssen bei ihrer Übertretung mit schweren Strafen rechnen (weil ein Angriff gegen eine andere Person jetzt auch ein Angriff gegen die Götter ist). Das Musterbeispiel, das alle Juden und Christen kennen, sind die Zehn Gebote.
In den säkularisierten Gesellschaften der jüngeren Zeit sind solche moralischen Verhaltensregeln über ihren religiösen Ursprung hinausgewachsen. Dass Atheisten genau wie viele Gläubige ihre Feinde nicht töten, liegt an Werten, die ihnen von der Gesellschaft eingepflanzt wurden, und an der Angst vor der mächtigen Hand des Gesetzes, nicht aber an der Angst vor dem Zorn Gottes. Aber vom Aufstieg der Häuptlingstümer bis zur Entstehung der säkularen Staaten in jüngerer Zeit rechtfertigte die Religion einen Verhaltenskodex, und damit versetzte sie die Menschen in die Lage, auch in großen Gesellschaften, in denen man häufig Fremden begegnet, harmonisch zusammenzuleben. Diese beiden Funktionen der Religion – sie ermöglicht Fremden, friedlich zusammenzuleben, und lehrt die Massen, ihren politischen Anführern zu gehorchen – bilden die beiden Aspekte der häufig erörterten Rolle der Religion bei der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Oder, wie Voltaire zynisch bemerkte: »Gäbe es Gott nicht, man müsste ihn erfinden.« Je nachdem, welche Sichtweise man selbst einnimmt, galten
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