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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Landwirtschaft seine eigenen Lebensmittel beschaffen. Erst größere, produktivere Gesellschaften erwirtschaften Überschüsse, mit denen sie Häuptlinge, andere Führungspersonen oder spezialisierte Handwerker ernähren können, die selbst keine Nahrung jagen oder anbauen.
    Wie kam es zu einer solchen Umleitung der Lebensmittel? Ein Dilemma ergibt sich aus dem Zusammenwirken von drei offenkundigen Tatsachen: Bevölkerungsreiche Gesellschaften werden mit großer Wahrscheinlichkeit kleine Gesellschaften unterwerfen; bevölkerungsreiche Gesellschaften brauchen hauptberufliche Führungspersonen und Bürokraten, denn 20  Menschen können sich am Lagerfeuer zusammensetzen und zu einer Einigung gelangen, bei 20  Millionen Menschen ist das nicht möglich; und hauptberufliche Führungspersonen und Bürokraten müssen ernährt werden. Aber wie kann der Häuptling oder König erreichen, dass die Bauern einen Vorgang hinnehmen, bei dem es sich letztlich um den Diebstahl ihrer Lebensmittel durch eine Klasse gesellschaftlicher Parasiten handelt? Dieses Problem kennen die Bürger aller Demokratien, die sich bei jeder Wahl die gleiche Frage stellen: Was haben die Amtsinhaber seit der letzten Wahl getan, um die fetten Gehälter zu rechtfertigen, die sie sich selbst aus den öffentlichen Schatullen bezahlen?
    Für dieses Problem entwickelten alle gut durchdachten Häuptlingstümer und frühen Staatsgesellschaften – vom alten Ägypten und Mesopotamien über das Hawaii der Polynesier bis zum Inkareich – die gleiche Lösung. Man proklamierte eine Religion mit folgenden Grundsätzen: Der Häuptling oder König ist mit den Göttern verwandt oder ist sogar selbst ein Gott; er kann zwischen Menschen und Göttern zum Wohle der Bauern vermitteln, beispielsweise damit die Götter Regen schicken oder für eine gute Ernte sorgen. Darüber hinaus leistet der Häuptling oder König wertvolle Dienste, weil er die Bauern so organisiert, dass sie öffentliche Einrichtungen bauen, die allen zugutekommen, beispielsweise Straßen, Bewässerungssysteme oder Lagerhäuser. Als Gegenleistung für diese Dienste sollen die Bauern den Häuptling sowie seine Priester und Steuereintreiber ernähren. Mit standardisierten Ritualen, die in standardisierten Tempeln vollzogen wurden, brachte man die religiösen Grundsätze den Bauern nahe, damit sie dem Häuptling und seinen Lakaien gehorchten. Von den Bauern ernährt wurden auch Armeen, die dem Häuptling oder König unterstanden; mit ihrer Hilfe konnte der Häuptling benachbarte Länder erobern und damit zum Nutzen seiner Bauern ein größeres Territorium erwerben. Die Armeen verschafften dem Häuptling noch zwei weitere Vorteile: Kriege gegen Nachbarn banden die Energie ehrgeiziger junger Adliger, die ansonsten vielleicht den Sturz des Häuptlings ausgeheckt hätten; und die Armeen standen auch bereit, um Aufstände der Bauern selbst niederzuschlagen. Als die ersten theokratischen Staaten sich zu den Großreichen des alten Babylon und Rom weiterentwickelten und immer mehr Lebensmittel und Arbeitskräfte unter ihre Kontrolle brachten, wurden die architektonischen Insignien der Staatsreligionen immer raffinierter. Das ist der Grund, warum Karl Marx die Religion als Opium des Volkes und Instrument zur Unterdrückung der Klassen bezeichnete.
    In der jüdisch-christlichen Welt hat sich dieser Trend in den letzten Jahrhunderten natürlich umgekehrt, und heute sind die Religionen viel weniger die Handlanger des Staates als früher. Politiker und die Oberschicht bezeichnen sich heute nicht mehr als Götter, sondern sie bedienen sich anderer Mittel, um uns Bauern zu überzeugen oder zu etwas zu zwingen. In manchen muslimischen Staaten, Israel und (bis vor kurzem) Japan und Italien hat sich aber die Verschmelzung von Religion und Staat bis heute erhalten. Selbst die Regierung der Vereinigten Staaten beruft sich auf ihren Geldscheinen auf Gott und stattet sowohl den Kongress als auch die Streitkräfte mit staatlichen Geistlichen aus; außerdem intoniert jeder amerikanische Präsident (ganz gleich, ob Demokrat oder Republikaner) am Ende seiner Ansprachen die Hymne »God Bless America«.
    Regeln für das Verhalten gegenüber Fremden
    Ein weiteres Attribut der Religion, das in Staatsgesellschaften große Bedeutung erlangte, in den kleinsten Gesellschaften aber nicht existierte, sind die moralischen Begriffe für das Verhalten gegenüber Fremden, die von ihr vorgeschrieben werden. Alle großen Weltreligionen lehren, was

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