Vermächtnis
sie sich dabei sowohl auf das Neue als auch auf das Alte Testament.
Interessanterweise berufen sich Neuguineer nie auf die Religion, wenn sie eine Rechtfertigung dafür suchen, mit Mitgliedern einer anderen Gruppe zu kämpfen oder sie zu töten. Viele meiner Freunde aus Neuguinea haben mir erzählt, wie sie sich an völkermörderischen Angriffen auf Nachbarstämme beteiligten. In allen diesen Berichten habe ich nicht die leiseste Anspielung auf religiöse Motive gefunden, auf ein Sterben für Gott oder die wahre Religion, oder auf die Selbstaufopferung für irgendein idealistisches Ziel. Die von Religion gestützten Ideologien dagegen, die den Aufstieg der Staaten begleiteten, impften ihren Bürgern die Verpflichtung ein, dem von Gott eingesetzten Herrscher zu gehorchen, moralische Vorschriften wie die Zehn Gebote nur gegenüber Mitbürgern zu befolgen und bereit zu sein, ihr Leben im Kampf gegen andere Staaten (das heißt Heiden) zu opfern. Das macht Gesellschaften mit religiösen Fanatikern so gefährlich: Eine winzige Minderheit ihrer Angehörigen (zum Beispiel 19 Personen am 11 . September 2001 ) stirbt für ihre Ziele, und damit gelingt es der gesamten Gesellschaft der Fanatiker, eine weit größere Zahl ihrer vermeintlichen Feinde zu töten (nämlich 2996 am 11 . September 2001 ). Die Vorschriften für schlechtes Benehmen gegenüber anderen Gruppen erreichten ihren Höhepunkt in den letzten 1500 Jahren, als fanatische Christen und Muslime einander und die Heiden mit Tod, Sklaverei oder Zwangsbekehrung überzogen. Im 20 . Jahrhundert kamen in den europäischen Staaten säkulare Begründungen hinzu, mit denen man die Tötung von Millionen Bürgern anderer europäischer Staaten rechtfertigte, aber in einigen anderen Gesellschaften ist der religiöse Fanatismus auch heute noch stark.
Abzeichen des Engagements
Für säkulare Menschen sind einige Aspekte der Religion immer wieder rätselhaft und beunruhigend. An erster Stelle steht dabei die regelmäßige Verbindung zu einem irrationalen Glauben an Übernatürliches, wobei aber jede Religion ihre eigenen derartigen Überzeugungen hat und daran festhält, während sie die meisten Überzeugungen anderer Religionen ablehnt; weiterhin die häufige Begünstigung aufwendiger oder sogar sich selbst schädigender oder selbstmörderischer Verhaltensweisen, von denen man annehmen könnte, sie würden Menschen nicht mehr, sondern weniger zur Religion neigen lassen; und ihre offenkundige, grundlegende Heuchelei, einen Moralkodex zu predigen und häufig Allgemeingültigkeit zu beanspruchen, während sie gleichzeitig viele oder die meisten Menschen von der Anwendung dieses Kodex ausnimmt und ihre Anhänger dazu drängt, sie zu töten. Wie lassen sich solche beunruhigenden Widersprüche erklären? Ich finde insbesondere zwei Lösungen nützlich.
Eine davon ist die Erkenntnis, dass die Anhänger einer bestimmten Religion das Bedürfnis haben, ein zuverlässiges »Abzeichen« ihrer Anhängerschaft zur Schau zu stellen. Die Gläubigen verbringen ihr Leben zusammen und verlassen sich aufeinander, und das in einer Welt, in der viele oder die meisten anderen Menschen anderen Religionen angehören, möglicherweise der eigenen Religion feindselig gegenüberstehen oder überhaupt allen Religionen gegenüber skeptisch sind. Sicherheit, Wohlergehen und Leben hängen also davon ab, dass man die Glaubensgenossen richtig erkennt und sie überzeugt, dass sie uns ebenso trauen können wie wir ihnen. Welche Beweise für unsere und ihre Zugehörigkeit sind glaubwürdig?
Damit die Beweise glaubwürdig sind, muss es sich um sichtbare Dinge handeln, die niemand um des betrügerischen Strebens nach vorübergehendem Vorteil willen vortäuschen kann. Das ist der Grund, warum religiöse »Abzeichen« immer aufwendig sind: hoher Zeitaufwand zum Erlernen und regelmäßigen Praktizieren von Ritualen, Gebeten und Liedern sowie für Pilgerreisen; ein hoher Aufwand an Ressourcen, darunter Geld, Geschenke und Opfertiere; das öffentliche Bekenntnis zu rational unplausiblen Überzeugungen, die von anderen für verrückt erklärt und lächerlich gemacht werden; und die öffentliche Duldung oder Zurschaustellung von Zeichen für eine schmerzhafte, dauerhafte Verstümmelung des Körpers, darunter Schnitte und blutende Wunden an empfindlichen Körperteilen, entstellende Operationen an den Genitalien und die Selbstamputation von Fingergelenken. Wenn andere sehen, dass jemand einen derart aufwendigen Einsatz
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