Vermächtnis
dass die Frage nach »Sinn« nicht sinnvoll ist, dass unser individuelles Leben tatsächlich sinnlos, zwecklos und flüchtig ist, außer als Verpackung für Gene, deren Erfolgsmaßstab schlicht die Selbstfortpflanzung ist. Manche Atheisten würden behaupten, dass es das Problem der Theodizee nicht gibt; Gut und Böse sind nur Definitionen der Menschen; wenn X und Y an Krebs oder einem Autounfall sterben, A und B aber nicht, handelt es sich schlicht um eine zufällige Katastrophe; es gibt kein Jenseits; und wenn jemand auf Erden gelitten hat oder misshandelt wurde, gibt es dafür nach dem Tod keine Korrektur. Wenn man zu einem solchen Atheisten sagt: »Ich höre das nicht gerne, sage mir, dass es nicht stimmt, zeige mir, dass die Wissenschaft ihren eigenen Weg hat, einen Sinn zu vermitteln«, würde der Atheist darauf antworten: »Dein Streben ist umsonst, komm darüber hinweg, suche nicht mehr nach Sinn, denn es gibt keinen – es ist einfach so, wie Donald Rumsfeld es über die Plünderungen während des Irakkrieges gesagt hat: ›Dinge passieren.‹« Aber wir haben immer noch das gleiche alte Gehirn, das nach Sinn sucht. Mehrere Millionen Jahre der Entwicklungsgeschichte sagen uns: »Selbst wenn das stimmt, ich mag es nicht, und ich werde es nicht glauben: Wenn die Wissenschaft mir keinen Sinn vermittelt, suche ich ihn in der Religion.« Das ist vermutlich ein bedeutender Grund dafür, dass die Religion in diesem Jahrhundert des Wachstums von Wissenschaft und Technologie erhalten geblieben und sogar ebenfalls gewachsen ist. Möglicherweise liefert sie einen Teil der Antwort – aber sicher nicht die ganze Antwort – auf die Frage, warum die Vereinigten Staaten, der Staat mit den am höchsten entwickelten wissenschaftlichen und technischen Einrichtungen der Welt, gleichzeitig unter den wohlhabenden Staaten der Ersten Welt auch der religiöseste ist. Ein weiterer Teil der Erklärung dürfte in der Kluft zwischen armen und reichen Menschen liegen, die in den Vereinigten Staaten größer ist als in Europa.
Organisation und Gehorsam
Die letzten vier Merkmale der Religion, die ich hier erörtern möchte – standardisierte Organisationen, das Predigen politischen Gehorsams, die Lenkung des Verhaltens gegenüber Fremden mit Hilfe eines formellen Moralkodex und die Rechtfertigung von Kriegen –, waren in Kleingesellschaften nicht vorhanden; sie tauchten mit dem Aufstieg der Häuptlingstümer und Staaten auf, und in den modernen, säkularen Staaten ist ihre Bedeutung wieder zurückgegangen. Ein charakteristisches Merkmal der modernen Religionen, das wir für selbstverständlich halten, ist ihre standardisierte Organisation. In den meisten modernen Religionen gibt es hauptberufliche Geistliche, auch Rabbiner, Pfarrer, Imame oder anders genannt, die entweder ein Gehalt beziehen oder mit allem Lebensnotwendigen versorgt werden. Moderne Religionen besitzen auch Kirchen (alias Tempel, Synagogen, Moscheen usw.). In allen Kirchen einer Glaubensrichtung wird das gleiche heilige Buch (Bibel, Thora, Koran usw.) benutzt, und auch Rituale, Kunst, Musik, Architektur und Kleidung sind gleich. Ein praktizierender Katholik, der in Los Angeles aufgewachsen ist und zu Besuch nach New York fährt, kann dort in einer katholischen Kirche an der Sonntagsmesse teilnehmen und findet alle bekannten Aspekte wieder. In den Religionen von Kleingesellschaften dagegen sind alle diese Merkmale entweder nicht standardisiert (Rituale, Kunst, Musik, Kleidung), oder sie existieren überhaupt nicht (hauptamtliche Geistliche, zweckgebundene Kirchen, heilige Bücher). Es gibt dort zwar möglicherweise Schamanen, von denen manche auch eine Vergütung oder Geschenke erhalten. Die Schamanen sind aber keine Vollzeit-Profis: Sie müssen wie alle anderen körperlich gesunden Erwachsenen in ihrer Horde oder ihrem Stamm auch jagen, sammeln und Nutzpflanzen anbauen.
In der Geschichte entwickelten sich diese Organisationsmerkmale der Religionen zur Lösung eines neuen Problems, das sich stellte, als die Gesellschaften früherer Zeiten immer wohlhabender und bevölkerungsreicher wurden, so dass sie sich stärker zentralisieren mussten und konnten. Horden- und Stammesgesellschaften sind so klein und wenig produktiv, dass sie keine Nahrungsmittelüberschüsse erzeugen können, mit denen sie hauptamtliche Priester, Häuptlinge, Steuereintreiber, Töpfer, Schamanen oder andere Spezialisten versorgen könnten. Jeder Erwachsene muss sich durch Jagd, Sammeln oder
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