Vermächtnis
Zweisprachigkeit sei insbesondere für die Kinder von Einwanderern schädlich, weil sie daran gehindert würden, mit der vorwiegend englischsprachigen amerikanischen Kultur zurechtzukommen; deshalb, so heißt es, sollten sie die Sprache ihrer Eltern lieber nicht erlernen. Diese Ansicht vertreten nicht nur im Land geborene US -Amerikaner, sondern auch viele eingewanderte Eltern der ersten Generation: Meine Großeltern und die Eltern meiner Frau vermieden es sorgfältig, in Gegenwart ihrer Kinder Jiddisch beziehungsweise Polnisch zu sprechen, weil sie sicherstellen wollten, dass meine Eltern und meine Frau ausschließlich Englisch lernten. Ein zusätzlicher Grund für diese Ansicht ist bei den im Land geborenen US -Amerikanern die Angst und das Misstrauen gegenüber allem Ausländischen, auch den ausländischen Sprachen; außerdem fürchten sowohl im Land geborene als auch eingewanderte Eltern, es könne für die Kinder verwirrend sein, wenn sie parallel mit zwei Sprachen in Kontakt kommen, und sie würden eine Sprache schneller beherrschen, wenn sie nicht noch eine zweite hören. Solche Überlegungen sind durchaus legitim: Wenn ein Kind zwei Sprachen lernt, muss es doppelt so viele Sprachlaute, Wörter und grammatikalische Strukturen verinnerlichen wie ein einsprachiges; das zweisprachige Kind kann jeder Sprache nur halb so viel Zeit widmen; deshalb (so die Befürchtung) beherrscht das zweisprachige Kind am Ende nicht eine Sprache gut, sondern zwei Sprachen schlecht.
Tatsächlich berichteten Studien, die man bis in die 1960 er Jahre hinein in den Vereinigten Staaten, Irland und Wales durchführte, zweisprachige Kinder seien im Vergleich zu einsprachigen sprachlich signifikant benachteiligt; danach erlernten sie die Sprachbeherrschung langsamer, und am Ende hatten sie in beiden Sprachen einen kleineren Wortschatz. Schließlich wurde jedoch klar, dass diese Interpretation durch andere Variablen verfälscht wurde, die in den Studien mit der Zweisprachigkeit korrelierten. In den Vereinigten Staaten ist Zweisprachigkeit stärker als in anderen Ländern mit Armut gekoppelt. Im Vergleich zwischen zweisprachigen und Englisch-einsprachigen amerikanischen Kindern stammten Letztere in der Regel aus wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen; sie besuchten bessere Schulen und hatten gebildetere, wohlhabende Eltern, die eine höhere berufliche Stellung bekleideten und über einen größeren Wortschatz verfügten. Schon solche Zusammenhänge mit der Zweisprachigkeit könnten eine Erklärung für die geringere Sprachkompetenz der zweisprachigen Kinder sein.
In neueren Studien aus den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa werden solche Variablen berücksichtigt: Man vergleicht ein- und zweisprachige Kinder, die auf dieselbe Schule gehen und deren Eltern eine vergleichbare sozioökonomische Stellung haben. Nun stellt sich heraus, dass zwei- und einsprachige Kinder, die in anderer Hinsicht zusammenpassen, die wichtigen Stationen des Spracherwerbs (das erste Wort, der erste Satz, Erwerb eines Wortschatzes von 50 Wörtern) im gleichen Alter durchlaufen. Je nachdem, welche Studie man heranzieht, gleichen sich zwei- und einsprachige Kinder als Erwachsene im Wesentlichen in der Größe des Wortschatzes und der Wortfindungsfähigkeit, oder einsprachige Kinder haben einen geringfügigen Vorteil (einen um 10 Prozent größeren Wortschatz in ihrer einzigen Sprache). Aber diesen Befund mit der Aussage »einsprachige Kinder haben einen etwas größeren Wortschatz von 3300 statt 3000 Wörtern« zusammenzufassen, wäre irreführend. Der Befund lautet vielmehr: »Zweisprachige Kinder haben einen viel größeren Wortschatz: nämlich insgesamt 6000 Wörter, davon 3000 englische und 3000 chinesische anstelle von 3300 englischen Wörtern.«
Allgemeine Unterschiede in der Kognitionsfähigkeit ein- und zweisprachiger Menschen konnte man mit Studien bis heute nicht nachweisen. Dass die eine Gruppe im Durchschnitt schlauer ist oder schneller denken kann als die andere, stimmt nicht. Es scheint vielmehr Unterschiede in einzelnen Aspekten zu geben: Einsprachige Menschen können (vielleicht) geringfügig schneller Wörter finden oder Objekte benennen (weil sie nicht zwischen verschiedenen Bezeichnungen wählen müssen, die alle in den Sprachen, die sie beherrschen, richtig sind). Der spezifische Unterschied, der bisher am häufigsten nachgewiesen wurde, betrifft die »exekutive Funktion« wie Wissenschaftler sie nennen, und da sind zweisprachige Menschen im
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