Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
Vom Netzwerk:
unserer Vergangenheit als Sammler und Jäger die Regel, wie sie auch heute noch in den traditionellen Gesellschaften Neuguineas die Regel ist; auch die Gründe sind die gleichen: winzige Sprachgemeinschaften, daher häufige sprachliche Exogamie, sowie tägliche Begegnungen und Gespräche mit Sprechern anderer Sprachen.
    Zwei andere Studien – von Arthur Sorensen und Jean Jackson – stammen aus der Region des Flusses Vaupes an der Grenze zwischen Kolumbien und Brasilien im Nordwesten des Amazonasbeckens. Dort leben ungefähr 10 000 Indianer, die 21 verschiedene, zu vier Sprachfamilien gehörende Sprachen sprechen, sich aber kulturell sehr ähnlich sind: Alle erwerben sich ihren Lebensunterhalt durch Landwirtschaft, Fischerei und Jagd an den Flüssen in tropischen Regenwäldern. Wie die Aborigines von Cape Kerweer, so sind auch die Indianer vom Vaupes-Fluss sprachlich exogam, das allerdings noch strenger: Unter 1000 Ehen, die Jackson studierte, wurde nur eine einzige vermutlich innerhalb einer Sprachgemeinschaft geschlossen. Die Jungen bleiben auch als Erwachsene im Langhaus ihrer Eltern, in dem sie aufgewachsen sind, die Mädchen aus anderen Langhäusern und Sprachgruppen ziehen bei der Eheschließung ins Langhaus ihres Mannes. In einem Langhaus leben also Frauen, die aus verschiedenen Sprachgemeinschaften eingeheiratet haben: In einer Unterkunft, die Sorensen eingehend studierte, stammten sie aus drei solchen Gruppen. Alle Kinder lernen vom Säuglingsalter an sowohl die Sprache des Vaters als auch die der Mutter, später erlernen sie dann auch die Sprachen der anderen Frauen im Langhaus. Entsprechend beherrscht jeder Bewohner die vier in dem Haus vertretenen Sprachen (die der Männer und die der drei Sprachgemeinschaften der Frauen), und die meisten lernen von Besuchern noch weitere Sprachen.
    Erst nachdem die Indianer vom Vaupes-Fluss eine Sprache vom Hören und durch den passiven Erwerb von Wortschatz und Aussprache gut kennen, fangen sie an, sie auch zu sprechen. Sie trennen sorgfältig zwischen den Sprachen und geben sich große Mühe, sie jeweils korrekt auszusprechen. Wie sie Sorensen berichteten, müssen sie ein bis zwei Jahre lernen, um eine Sprache fließend zu beherrschen. Auf richtigen Sprachgebrauch wird großer Wert gelegt, und zuzulassen, dass sich Wörter aus einer anderen Sprache in ein Gespräch einschleichen, gilt als Schande.
    Solche Einzelfallberichte aus Kleingesellschaften auf Neuguinea und zwei Kontinenten legen die Vermutung nahe, dass eine sozial erworbene Mehrsprachigkeit in unserer Vergangenheit die Regel war und dass die Einsprachigkeit oder die in der Schule erlernte Vielsprachigkeit der modernen Staatsgesellschaften ein neues Phänomen ist. Diese Verallgemeinerung ist aber nur eine vorläufige Vermutung, und sie hat ihre Grenzen. In manchen Regionen mit geringer Sprachenvielfalt oder einer erst kürzlich erfolgten Sprachausbreitung, beispielsweise in hohen Breiten und bei den Inuit östlich von Alaska, könnte auch die Einsprachigkeit für Kleingesellschaften typisch gewesen sein. Die allgemeine Aussage stützt sich bisher nur auf Einzelfallberichte und Erwartungen, die sich aus der Beobachtung traditioneller, kleiner Sprachgemeinschaften ergeben. Was fehlt, sind systematische Übersichtsuntersuchungen, die sich einer Standarddefinition für Mehrsprachigkeit bedienen; erst sie werden diese Aussage auf eine festere Grundlage stellen.
    Nutzen der Zweisprachigkeit
    Stellen wir uns nun einmal die Frage, ob die traditionelle Zwei- oder Mehrsprachigkeit unter dem Strich nützt, schadet oder zweisprachigen Menschen im Vergleich zu einsprachigen weder Vor- noch Nachteile bringt. Ich möchte einige faszinierende, kürzlich entdeckte praktische Vorteile der Zweisprachigkeit beschreiben, die vielleicht beeindruckender sind als die übliche Behauptung, das Erlernen einer Fremdsprache sei eine Bereicherung für das Leben. Ich möchte hier nur auf die Auswirkungen der Zweisprachigkeit für den Einzelnen eingehen; die zugehörige Frage, ob Zweisprachigkeit für die Gesellschaft als Ganzes gut oder schlecht ist, werde ich in einem späteren Abschnitt behandeln.
    Betrachtet man die modernen Industriestaaten, so ist die Zweisprachigkeit vor allem in den Vereinigten Staaten Gegenstand lebhafter Diskussionen, also in einem Land, das seit über 250  Jahren einen großen Anteil nicht Englisch sprechender Einwanderer in seine Bevölkerung aufgenommen hat. Häufig hört man in den USA die Ansicht,

Weitere Kostenlose Bücher