Vermächtnis
politischen Integration seit dem Zweiten Weltkrieg und der Verbreitung englischsprachiger Massenmedien. Früher war Einsprachigkeit in den europäischen Nationalstaaten wie in anderen Staatsgesellschaften die Regel. Die Gründe sind klar: Die Sprachgemeinschaft in einem Staat ist riesengroß und umfasst oft viele Millionen Menschen; Staatsgesellschaften bevorzugen die eigene Sprache in Verwaltung, Schulwesen, Handel, Armee und Unterhaltung; und Staaten verfügen (wie ich noch genauer darlegen werde) über wirksame Mittel, um ihre Staatssprache absichtlich und unabsichtlich auf Kosten anderer Sprachen zu verbreiten.
Weit verbreitet oder die Regel ist Mehrsprachigkeit dagegen in traditionellen, nichtstaatlichen Kleingesellschaften. Auch hier sind die Gründe einfach. Wie wir bereits erfahren haben, sind traditionelle Sprachgemeinschaften klein (einige tausend Sprecher oder noch weniger), und sie besiedeln kleine Gebiete. Unmittelbar benachbarte Gemeinschaften sprechen oftmals verschiedene Sprachen. Die Menschen begegnen regelmäßig Sprechern anderer Sprachen und müssen mit ihnen zurechtkommen. Um Handel zu treiben, um Bündnisse und den Zugang zu Ressourcen auszuhandeln und (bei vielen traditionellen Völkern) sogar um einen Ehepartner zu bekommen und mit ihm zu kommunizieren, muss man nicht nur zwei-, sondern mehrsprachig sein. Die zweite Sprache und weitere werden in der Kindheit nicht durch formellen Unterricht erlernt, sondern zu Hause oder im sozialen Umfeld. Bei traditionellen Neuguineern ist nach meiner Erfahrung die fließende Beherrschung von mindestens fünf Sprachen die Regel. Ich möchte jetzt meine Eindrücke aus Neuguinea durch kurze Berichte von zwei Kontinenten ergänzen: dem Australien der Aborigines und dem tropischen Südamerika.
In Australien gab es zur Zeit der Aborigines ungefähr 250 Sprachgemeinschaften. Alle diese Gesellschaften verschafften sich ihren Lebensunterhalt durch Jagen und Sammeln, und jede Sprache wurde von durchschnittlich 1000 Menschen gesprochen. Allen zuverlässigen Berichten zufolge waren die meisten traditionellen Aborigines mindestens zweisprachig, und viele beherrschten sogar mehrere Sprachen. Eine solche Studie stellte der Anthropologe Peter Sutton in der Region von Cape Kerweer auf der Halbinsel Cape York an: Dort gliederte sich die einheimische Bevölkerung, insgesamt 683 Personen, in 21 Clans mit jeweils durchschnittlich 33 Mitgliedern, von denen jeder sich einer anderen Sprechweise bediente. Diese Sprechweisen konnte man in fünf Sprachen sowie ungefähr sieben Dialekte einteilen, die Durchschnittszahl der Sprecher betrug also 53 je Sprechweise und 140 je Sprache. Die traditionellen Aborigines der Region sprachen oder verstanden mindestens fünf Sprachen oder Dialekte. Wegen der geringen Größe der Sprachgemeinschaften und der Vorliebe für sprachliche Exogamie (man heiratet bevorzugt jemanden, der nicht die eigene Sprache spricht) werden 60 Prozent der Ehen zwischen Partnern unterschiedlicher Sprachzugehörigkeit geschlossen, weitere 16 Prozent zwischen Sprechern verschiedener Dialekte derselben Sprache und nur 24 Prozent zwischen Personen mit demselben Dialekt. Und das, obwohl Nachbarclans sich in der Regel sprachlich ähnlich sind – räumliche Nähe allein würde also zu Ehen zwischen Sprechern desselben Dialekts führen, gäbe es nicht das bevorzugte Streben nach geographisch und sprachlich weiter entfernten Partnern.
Da viele soziale Gruppen in Cape Kerweer Sprecher verschiedener Sprachen umfassen, werden auch Unterhaltungen oftmals vielsprachig geführt. Üblicherweise beginnt man ein Gespräch in der Sprache der Person, an die man sich wendet, oder (wenn man ein Besucher ist) in der Sprache des gastgebenden Lagers. Anschließend kann man zur eigenen Sprache wechseln, und die Gesprächspartner antworten ebenfalls in ihrer eigenen Sprache, oder man spricht jede Person in deren eigener Sprache an, wobei man mit der Wahl der Sprache auch anzeigt, an wen man sich gerade wendet. Außerdem kann man durch den Wechsel der Sprache unausgesprochene Botschaften übermitteln: Die Entscheidung für die eine Sprache bedeutet zum Beispiel »wir beide haben keinen Streit«, eine andere bedeutet »wir haben Streit, aber ich will zur Beruhigung beitragen«, eine dritte heißt »ich bin ein guter, sozial anständiger Mensch« und eine vierte »ich will dich beleidigen und spreche deshalb respektlos mit dir«. Wahrscheinlich war eine solche Vielsprachigkeit in
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