Vermächtnis
Landbevölkerung – im Vergleich zum Westen genau der umgekehrte Trend, den man ähnlich allerdings auch in anderen Entwicklungsländern gefunden hat, so in China, Bangladesch und Malaysia. Indische Diabetespatienten haben zum Beispiel häufiger eine Hochschulausbildung und sind seltener Analphabeten als Nicht-Diabetiker. Im Jahr 2004 lag die Diabeteshäufigkeit in indischen Städten bei 16 Prozent, auf dem Land dagegen nur bei drei Prozent; auch das ist im Westen umgekehrt. Wahrscheinlich lässt sich dieses Paradox damit erklären, dass die westliche Lebensweise sich im Westen in zweierlei Hinsicht weiter in der Bevölkerung verbreitet hat und seit längerer Zeit praktiziert wird als in Indien. Erstens sind die Gesellschaften im Westen viel reicher als die indische Gesellschaft, so dass auch arme Landbewohner sich im Westen eher als in Indien das Fastfood leisten können, das dem Diabetes Vorschub leistet. Und zweitens haben gebildete Menschen im Westen, die sowohl Zugang zu Fastfood haben als auch eine sitzende Berufstätigkeit ausführen, heute bereits häufig gehört, dass Fastfood ungesund ist und dass man sich mehr bewegen soll; unter gebildeten Indern dagegen hat dieser Ratschlag noch nicht allgemein Fuß gefasst. Fast 25 Prozent der indischen Stadtbewohner (also der am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppe) haben von der Zuckerkrankheit noch nicht einmal gehört.
Letztlich ist Diabetes in Indien wie im Westen auf einen chronisch hohen Blutzuckerspiegel zurückzuführen, und auch die klinischen Folgen sind in manchen Fällen ähnlich. In anderer Hinsicht jedoch unterscheidet sich die Zuckerkrankheit in Indien – ob aufgrund von Aspekten der Lebensweise oder aufgrund genetischer Unterschiede zwischen Indien und dem Westen – von der Krankheit, die wir im Westen kennen. Wir halten den Diabetes des Typs 2 für eine Krankheit von Erwachsenen, die insbesondere jenseits des 50 . Lebensjahres ausbricht, bei indischen Diabetikern jedoch treten die Symptome bereits in einem 10 bis 20 Jahre geringeren Alter auf als bei Europäern; und dieses Alter des Krankheitsbeginns hat sich in Indien (wie auch in vielen anderen Bevölkerungsgruppen) innerhalb der letzten zehn Jahre in Richtung immer jüngerer Menschen verschoben. Schon bei Indern im späten Teenageralter bricht der »Altersdiabetes« (das heißt der nicht insulinabhängige Typ 2 ) mittlerweile häufiger aus als der »jugendliche Diabetes« (insulinabhängiger Typ 1 ). Übergewicht ist zwar sowohl in Indien als auch im Westen ein Risikofaktor, der Schwellenwert für das Auftreten der Krankheit scheint aber in Indien und in anderen asiatischen Ländern niedriger zu liegen. Auch die Symptome sind bei indischen und westlichen Diabetespatienten häufig unterschiedlich: Bei Indern kommt es seltener zu Blindheit und Nierenerkrankungen, sie erkranken aber wesentlich häufiger schon in jungen Jahren an der koronaren Herzkrankheit.
Für arme Inder liegt das Risiko zwar derzeit niedriger als für wohlhabende, durch die schnelle Ausbreitung des Fastfood sind aber selbst die Slumbewohner in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi der Diabetesgefahr ausgesetzt. Dr. S. Sandeep, Mr. A. Ganesan und Professor Mohan von der Madras Diabetes Research Foundation fassen die derzeitige Situation so zusammen: »Dies lässt darauf schließen, dass der Diabetes [in Indien] nicht nur eine Krankheit der Wohlhabenden oder Reichen ist. Sie wird zunehmend auch in der Mittelschicht und in den ärmeren Teilen der Gesellschaft zum Problem. Wie sich in Studien gezeigt hat, treten Komplikationen bei armen Diabetespatienten häufiger auf, weil sie weniger Zugang zu qualifizierter medizinischer Versorgung haben.«
Nutzen von Genen für Diabetes
Die Befunde, wonach der Diabetes eine starke genetische Komponente hat, stellen unter Evolutionsgesichtspunkten ein Rätsel dar. Warum kommt eine Krankheit, die einen Menschen so stark schwächt, in so vielen Bevölkerungsgruppen häufig vor? Eigentlich müsste man erwarten, dass sie allmählich verschwindet, weil die genetisch disponierten Personen durch natürliche Selektion beseitigt werden und keine Kinder hervorbringen, die ihre Gene tragen.
Zwei Erklärungen, die auf einige andere genetisch bedingte Krankheiten zutreffen – immer wieder neue Mutationen und das Fehlen von Folgen für die Selektion – kann man im Fall des Diabetes schnell ausschließen. Wenn nämlich erstens Diabetes so selten wäre wie die Muskeldystrophie
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