Vermächtnis
Anlehnung an Arthur Koestler bezeichnet Paul Zimmet die Ausbreitung der diabetesfördernden westlichen Lebensweise auf die Dritte Welt als »Coca-Colonisierung«.
In der Ersten Welt haben wir uns so an berechenbare Nahrungsmengen zu berechenbaren Zeiten jedes Tages gewöhnt, dass wir uns die oftmals unvorhersehbaren Schwankungen zwischen häufiger Nahrungsknappheit und gelegentlichem Überfluss, die für fast alle Menschen während der Evolution bis vor kurzer Zeit zum normalen Leben gehörten und in vielen Teilen der Welt bis heute gehören, kaum vorstellen können. Ich habe solche Schwankungen während meiner Freilandarbeit bei Neuguineern, die noch heute von Ackerbau und Jagd leben, häufig erlebt. Unter anderem ist mir ein Vorfall besonders in Erinnerung geblieben: Ich hatte ein Dutzend Männer angeworben, die die schwere Ausrüstung einen ganzen Tag lang über einen steilen Pfad zu einem Lagerplatz im Gebirge tragen sollten. Wir kamen kurz vor Sonnenuntergang in dem Lager an und rechneten damit, dort auf eine andere Gruppe von Trägern zu treffen, die Lebensmittel bei sich hatten; stattdessen stellte sich aber heraus, dass sie wegen eines Missverständnisses noch nicht dort waren. Umgeben von hungrigen, erschöpften Männern, die nun nichts zu essen hatten, rechnete ich damit, gelyncht zu werden. Aber stattdessen lachten meine Träger nur und sagten: »Orait, i nogatkaikai, i samtingnating, yumislipnating, enapyumikaikaitumora« (»Na gut, es ist nichts zu essen da, das ist nicht schlimm, wir schlafen heute Abend einfach mit leerem Magen und warten, bis es morgen etwas zu essen gibt.«) Das Umgekehrte erlebte ich bei anderen Gelegenheiten, bei denen Schweine geschlachtet wurden: Dann feierten meine neuguineischen Freunde über mehrere Tage ein üppiges Festmahl, bei dem die verzehrten Mengen selbst mich (den meine Freunde früher als Fass ohne Boden bezeichneten) schockierten und bei denen einige Menschen durch übermäßiges Essen ernsthaft krank wurden.
Solche Anekdoten machen deutlich, wie Menschen sich auf das Pendel zwischen Überfluss und Hungersnot einstellen, das in unserer Evolutionsvergangenheit häufig, aber unregelmäßig hin und her schwankte. In Kapitel 8 habe ich zusammengefasst, aus welchen Gründen unter traditionellen Lebensbedingungen so häufig Hunger herrscht: Nahrungsknappheit in Verbindung mit dem täglich wechselnden Jagderfolg, kurze Phasen mit schlechtem Wetter, berechenbare jahreszeitliche Schwankungen der Lebensmittelmengen und unvorhersehbare Wetterschwankungen von Jahr zu Jahr; in vielen Gesellschaften eine geringe oder überhaupt nicht vorhandene Fähigkeit, Nahrungsüberschüsse anzusammeln und zu lagern; und das Fehlen staatlicher Regierungen oder anderer Mittel, mit denen sich Lagerung, Transport und Austausch von Lebensmitteln in großen Regionen organisieren und strukturieren lassen. Umgekehrt seien im Folgenden einige Anekdoten aus der ganzen Welt über die Völlerei aufgelistet, die ausbrach, wenn Lebensmittel bei traditionellen Gesellschaften im Überfluss zur Verfügung standen.
Daniel Everett (Das glücklichste Volk, S. 121 – 122 ):
»Das Essen macht ihnen [den Piraha-Indianern in Südamerika] auch Spaß. Sobald im Dorf Lebensmittel zur Verfügung stehen, werden sie restlos verzehrt … Eine oder zwei Mahlzeiten auszulassen oder sogar einen ganzen Tag nichts zu essen, macht ihnen nichts aus. Ich habe Leute gesehen, die drei Tage lang mit kurzen Unterbrechungen tanzten … [Wenn Piraha zum ersten Mal in die Stadt kommen], sind sie anfangs immer von den westlichen Essgewohnheiten überrascht, insbesondere von der Gewohnheit, drei Mahlzeiten am Tag zu sich zu nehmen. Wenn Piraha zum ersten Mal außerhalb ihres Dorfes eine Mahlzeit verzehren, essen sie meist gierig und verschlingen gewaltige Protein- und Kohlenhydratmengen. Ebenso beim zweiten Mal. Aber schon bei der dritten Mahlzeit lassen sie Frustration erkennen. Dann schauen sie verblüfft drein, und häufig fragen sie: ›Essen wir schon
wieder?
!‹ Ihre eigene Praxis – essen, wenn Lebensmittel zur Verfügung stehen, und alles verbrauchen – steht im Widerspruch zu Verhältnissen, unter denen Lebensmittel immer verfügbar sind und niemals ausgehen. Ein Piraha, der drei bis sechs Wochen in der Stadt war [und ursprünglich 45 bis 55 Kilo gewogen hat], hat bei seiner Rückkehr ins Dorf häufig bis zu zwölf Kilo zugenommen. An Bauch und Oberschenkeln haben sich dann Fettpolster
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