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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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die Rohwerte ausschließlich aufgrund der unterschiedlichen Altersverteilung schwanken (in einer älteren Bevölkerung wäre die Krankheit häufiger), in Gruppen gleichen Alters wäre sie aber gleich. Deshalb misst man die Häufigkeit in einer Population in Abhängigkeit vom Alter; anschließend berechnet man, wie hoch sie in der Bevölkerungsgruppe wäre, wenn in dieser eine bestimmte standardisierte Altersverteilung herrscht.
    Es fällt auf, dass die Häufigkeit in wohlhabenden, westlich geprägten oder städtischen Bevölkerungsgruppen höher ist als in armen, traditionellen oder auf dem Land lebenden Gruppen des gleichen Volkes. Solche Unterschiede in der Lebensweise führen auch in nahezu allen Populationen zu Gruppen mit niedriger und hoher (über 12 %) Diabeteshäufigkeit; eine Ausnahme bilden nur die Westeuropäer: Bei ihnen gibt es nach weltweiten Maßstäben keine Gruppe mit hoher Krankheitshäufigkeit; die Gründe werden noch erörtert. Die Tabelle zeigt auch den Anstieg und nachfolgenden Rückgang der Diabeteshäufigkeit auf Nauru, der auf die schnelle Einführung der westlichen Lebensweise und die Wirkung der natürlichen Selektion auf die Diabetesopfer zurückzuführen ist.
     
    Ein ausgezeichnetes Beispiel für solche Unterschiede innerhalb eines Staates ist Indien. (Für die Informationen danke ich Professor V. Mohan von der Madras Diabetes Research Foundation.) Die durchschnittliche Diabeteshäufigkeit lag in Indien 2010 bei acht Prozent. Bis vor wenigen Jahrzehnten hatte es die Krankheit in dem Land kaum gegeben. Übersichtsuntersuchungen aus den Jahren 1938 und 1959 ergaben in Großstädten (Kalkutta und Mumbai), die heute Hochburgen der Zuckerkrankheit sind, Werte von einem Prozent oder weniger. Der Anstieg begann erst in den 1980 er Jahren, zunächst langsam und dann explosionsartig, so dass in Indien heute mehr Diabetiker (nämlich über 40  Millionen) leben als in jedem anderen Staat der Welt. Die Gründe sind im Wesentlichen die gleichen, die auch hinter der weltweiten Diabetes-Epidemie stehen: Landflucht, steigender Lebensstandard, die immer weitere Verbreitung kalorienreicher, süßer und fetthaltiger Fastfood-Gerichte, die in den Großstädten für Reiche und Arme gleichermaßen billig zur Verfügung stehen, eine zunehmende Bewegungsarmut durch den Übergang von Handarbeit zur Dienstleistung, aber auch durch Videospiele, Fernsehen und Computer, bei denen Kinder (und Erwachsene) jeden Tag stundenlang unbeweglich vor dem Bildschirm sitzen. Die Rolle des Fernsehens wurde zwar in Indien nicht gezielt quantitativ erfasst, in Australien jedoch zeigte eine Studie, dass jede Stunde, die man pro Tag mit Fernsehen verbringt, zu einem Anstieg der Herz-Kreislauf-bedingten Sterblichkeit um 18  Prozent führt (was vor allem mit dem Diabetes zusammenhängt); dies gilt auch dann, wenn andere Risikofaktoren wie Taillenumfang, Rauchen, Alkoholkonsum und Ernährung gleich bleiben. Auch diese Faktoren verstärken sich aber bekannterweise mit der Zeit, die man mit Fernsehen verbringt; in Wirklichkeit muss die Zahl also sogar noch höher liegen als die geschätzten 18  Prozent.
    Hinter der landesweiten Durchschnittshäufigkeit von acht Prozent verbirgt sich ein breites Spektrum verschiedener Werte für einzelne Gruppen von Indern. Am unteren Ende stehen mit einer Häufigkeit von 0 , 7  Prozent die nicht übergewichtigen, körperlich aktiven Landbewohner. Sie steigt auf elf Prozent bei übergewichtigen, bewegungsarmen Stadtbewohnern und erreicht ihren Spitzenwert mit 20  Prozent im Distrikt Ernakulam im südwestindischen Kerala, das zu den am stärksten urban geprägten Bundesstaaten gehört. Einen noch höheren Wert und die weltweit zweithöchste Diabeteshäufigkeit findet man mit 24  Prozent auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean, wo eine vorwiegend indische Einwanderergemeinde sich dem westlichen Lebensstandard schneller annähert als alle Bevölkerungsgruppen in Indien selbst.
    Unter den Aspekten der Lebensweise, die in Indien zum Diabetes disponieren, sind einige auch in westlich geprägten Gesellschaften allgemein bekannt, andere stellen die Erwartungen des Westens auf den Kopf. Wie bei uns, so tritt Diabetes auch in Indien in Verbindung mit Übergewicht, Bluthochdruck und Bewegungsarmut auf. Aber zum Erstaunen europäischer und amerikanischer Diabetes-Experten ist die Krankheitshäufigkeit bei wohlhabenden, gebildeten indischen Stadtbewohnern höher als bei der armen, ungebildeten

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