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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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(ungefähr ein Fall unter 10 000 Personen), könnte man die entsprechenden Gene als Produkte immer wieder neuer Mutationen erklären: Danach werden die Kinder mit einer neuen Mutation ebenso häufig geboren, wie ältere Träger der Mutation an der Krankheit sterben. Aber keine Mutation tritt so häufig auf, dass sie sich in 3 bis 50  Prozent aller Kinder zeigt, dem Häufigkeitsspektrum des Diabetes in westlich geprägten Gesellschaften.
    Zweitens antworten Genetiker auf das evolutionäre Rätsel regelmäßig mit der Behauptung, am Diabetes würden nur ältere Menschen sterben, die das Alter, in dem sie Kinder zur Welt bringen oder großziehen, bereits hinter sich haben; demnach würde der Tod älterer Diabetiker für die Gene, die zur Zuckerkrankheit disponieren, keinen Selektionsnachteil darstellen. Diese Behauptung ist zwar beliebt, aber aus zwei naheliegenden Gründen falsch. Der Diabetes des Typs  2 tritt zwar bei Europäern tatsächlich vorwiegend jenseits des 50 . Lebensjahres auf, in Nauru, Indien und anderen nichteuropäischen Staaten jedoch sind Menschen im fortpflanzungsfähigen Alter zwischen 20 und 40  Jahren betroffen; dies gilt insbesondere für schwangere Frauen, deren ungeborene und neugeborene Kinder ebenfalls einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind. In Japan leiden beispielsweise heute mehr Kinder am Typ  2 als am Typ 1 der Zuckerkrankheit, obwohl Letzterer als »jugendlicher Diabetes« bezeichnet wird. Außerdem befindet sich (wie in Kapitel  6 erörtert wurde) in traditionellen Gesellschaften im Gegensatz zu den Gesellschaften der Ersten Welt kein älterer Mensch tatsächlich in einem »postreproduktiven« Alter, in dem er für die Selektion nicht mehr von Bedeutung wäre: Hier tragen Großeltern entscheidend zur Nahrungsversorgung, zum gesellschaftlichen Status und zum Überleben ihrer Kinder und Enkel bei.
    Wir müssen also davon ausgehen, dass die Gene, die heute anfällig für Diabetes machen, von der natürlichen Selektion vor unserem plötzlichen Übergang zur westlich geprägten Lebensweise bevorzugt wurden. Die natürliche Selektion muss solche Gene sogar Dutzende von Malen unabhängig voneinander begünstigt haben, denn es gibt Dutzende von nachgewiesenen genetischen Störungen, die zum Diabetes (des Typs  2 ) führen. Welchen Nutzen haben die mit dem Diabetes gekoppelten Gene uns früher gebracht, und warum bereiten sie uns heute Schwierigkeiten?
    Wie bereits erwähnt wurde, hat das Hormon Insulin unter dem Strich die Wirkung, dass wir die Nahrung, die wir zu uns nehmen, in Form von Fett speichern können und dass uns der Abbau der bereits angesammelten Fettreserven erspart bleibt. Diese Tatsachen veranlassten den Genetiker James Neel schon vor 30  Jahren zu der Vermutung, der Diabetes könne das Produkt eines »sparsamen Genotyps« sein, der den Organismus in die Lage versetzt, Glucose aus der Nahrung besonders effizient in Form von Fett zu speichern. Bei manchen Menschen reagiert die Insulinausschüttung beispielsweise vielleicht besonders empfindlich und schnell auf einen geringfügigen Anstieg des Blutzuckerspiegels. Diese genetisch bedingte schnelle Ausschüttung würde die Träger eines solchen Gens in die Lage versetzen, die Glucose aus der Nahrung als Fett zu binden, ohne dass der Blutzuckerspiegel zu stark ansteigt und die Glucose in den Urin abgeführt wird. In Zeiten eines gelegentlichen Nahrungsüberflusses würden die Träger solcher Gene die Nahrung effizienter nutzen, Fett einlagern und schnell zunehmen, und dann sind sie später besser in der Lage, eine Hungerphase zu überstehen. Unter den Bedingungen eines unberechenbareren Wechsels zwischen Überfluss und Mangel, wie er für die traditionelle Lebensweise der Menschen typisch war, wären solche Gene von Vorteil (Abb.  26 ) ; in der modernen Welt dagegen, in der die Menschen sich nicht mehr bewegen, ihre Nahrung nur noch in Supermärkten einsammeln und tagein, tagaus kalorienreiche Mahlzeiten zu sich nehmen, führen sie zu Übergewicht und Diabetes (Abb.  27 ) . Heute, wo viele von uns regelmäßig zuckerreiche Mahlzeiten zu sich nehmen und sich nur selten bewegen, ist ein sparsames Gen das Rezept für die Katastrophe. Deshalb werden wir dick; wir erleben nie Hungerphasen, in denen das Fett verbrannt wird; unsere Bauchspeicheldrüse schüttet ständig Insulin aus, bis sie nicht mehr Schritt halten kann oder bis Muskel- und Fettzellen gegen das Insulin resistent werden; am Ende haben wir dann Diabetes. In

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