Vermächtnis
sie heran. Bei allen gut untersuchten, großen, nichteuropäischen Bevölkerungsgruppen kennen wir heute irgendeine Untergruppe mit westlich geprägter Lebensweise und einer Diabeteshäufigkeit von über elf, in der Regel sogar über 15 Prozent: Dies gilt für amerikanische Ureinwohner, Nordafrikaner, Schwarzafrikaner aus dem mittleren und südlichen Teil des Kontinents, Menschen aus dem Nahen Osten, Inder, Ostasiaten, Neuguineer, australische Aborigines, Mikronesier und Polynesier. Im Vergleich zu dieser Norm sind die Europäer und ihre Nachkommen in Australien, Kanada, Neuseeland und den Vereinigten Staaten mit ihrer relativ geringen Erkrankungshäufigkeit unter den Bevölkerungsgruppen der modernen Welt einzigartig. Alle 41 Durchschnittswerte der Europäischen Staaten für die Diabeteshäufigkeit (Tabelle 5 , erste Zeile) liegen zwischen zwei und zehn Prozent, der Mittelwert beträgt nur sechs Prozent.
Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Europäer in Europa selbst und in Übersee zu den reichsten und am besten ernährten Menschen der Welt gehören und dass von ihnen außerdem die westlich geprägte Lebensweise ausging. Wir bezeichnen unsere träge, übergewichtige, vom Supermarkt versorgte Lebensweise gerade deshalb als »westlich«, weil sie sich zuerst bei Europäern und weißen Amerikanern entwickelte und sich erst jetzt auf andere Bevölkerungsgruppen ausbreitet. Wie können wir diesen Widerspruch erklären? Warum ist die Diabeteshäufigkeit bei Europäern nicht am höchsten, sondern am niedrigsten?
Mehrere Diabetesexperten äußerten mir gegenüber informell die Vermutung, die Europäer seien vielleicht traditionell nur selten mit Hungersnöten konfrontiert gewesen, und deshalb habe bei ihnen nur eine geringe Selektion auf einen sparsamen Genotyp stattgefunden. Aus der Geschichte ist aber vielfach belegt, dass Hungersnöte im Europa des Mittelalters und der Renaissance, aber auch schon früher eine weitverbreitete, umfangreiche Sterblichkeit zur Folge hatten. Diese immer wiederkehrenden Hungersnöte hätten eigentlich auch in Europa genau wie in allen anderen Regionen für die Selektion sparsamer Gene sorgen müssen. Eine plausible Hypothese stützt sich deshalb auf die Geschichte der europäischen Ernährung seit der Renaissance. Die weitverbreiteten, lang anhaltenden Hungersnöte, die Europa wie die übrige Welt früher heimsuchten, verschwanden in verschiedenen Teilen Europas zwischen ungefähr 1650 und 1900 ; die Entwicklung begann Ende des 17 . Jahrhunderts in Großbritannien und den Niederlanden und hatte im späten 19 . Jahrhundert auch Südfrankreich und Süditalien erreicht. Mit einer berühmten Ausnahme endeten die Hungersnöte in Europa durch das Zusammenwirken von insgesamt vier Faktoren: immer wirksamere staatliche Eingriffe, durch die überschüssiges Getreide schnell auf Hungergebiete verteilt wurde; ein immer effizienterer Lebensmitteltransport zu Lande und insbesondere zur See; eine immer vielfältigere europäische Landwirtschaft seit Kolumbus’ Reise 1492 , durch die europäische Reisende viele Nutzpflanzen (beispielsweise Kartoffeln und Mais) aus der Neuen Welt mitbrachten; und schließlich die Tatsache, dass man in Europa (anders als in vielen bevölkerungsreichen Regionen außerhalb des Kontinents) in der Landwirtschaft nicht auf Bewässerung angewiesen war, sondern sich auf den Regen verlassen konnte – dies verminderte die Gefahr einer ausgedehnten Missernte, der man durch den Lebensmitteltransport in Europa nicht mehr hätte begegnen können.
Die berühmte Ausnahme vom Ende der europäischen Hungersnöte war natürlich die irische Kartoffelkrise in den 1840 er Jahren. Eigentlich war sie die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Sie machte deutlich, was auch in Europa geschehen kann, wenn die ersten drei zuvor erwähnten Faktoren nicht wirksam sind. Die irische Kartoffel-Hungersnot hatte ihre Ursache in der Erkrankung einer einzigen Kartoffelsorte in einer Landwirtschaft, die sich – ungewöhnlich in Europa – ganz auf eine einzige Nutzpflanze konzentrierte. Die Hungersnot trat auf einer Insel (Irland) auf, die von einem ethnisch andersartigen, auf einer anderen Insel angesiedelten Staat (Großbritannien) regiert wurde, und dieser Staat war berüchtigt für seine Unfähigkeit oder die mangelnde Motivation, was die Reaktion auf die irische Hungersnot anging.
Diese Tatsachen aus der Geschichte der europäischen Ernährung veranlassen mich zu folgender
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