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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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jemanden kennengelernt hast und eine Woche mit ihm zusammen warst, heißt das nicht, dass du zu diesem Menschen eine Beziehung oder Freundschaft hast.« Dagegen haben wir in unserer großen, westlich geprägten Gesellschaft mit ihren ungeheuer vielen Entscheidungsmöglichkeiten und unseren häufigen geographischen Ortswechseln eine viel größere Bandbreite – und einen größeren Bedarf – im Hinblick auf Beziehungen, deren Grundlage nicht Verwandtschaft, Ehe oder die geographische Zufälligkeit einer Kindheit in der Nachbarschaft sind, sondern persönliche Bande der Freundschaft.
    In einer großen, hierarchisch gegliederten Gesellschaft, in der Tausende oder Millionen Menschen unter dem Schirm eines Häuptlingstums oder Staates zusammenleben, ist es normal, ungefährlich und nicht bedrohlich, Fremde zu treffen. Wenn ich beispielsweise über den Campus der University of California oder durch die Straßen von Los Angeles gehe, begegnen mir jedes Mal Hunderte von Menschen, die ich nie zuvor gesehen habe, vermutlich nie wieder sehen werde und zu denen ich weder durch Blutsverwandtschaft noch durch Heirat in einer nachvollziehbaren Beziehung stehe, und doch habe ich keine Angst. Ein frühes Stadium dieser veränderten Einstellung gegenüber Fremden zeigt sich an dem bereits erwähnten Volk der Nuer im Sudan, das aus ungefähr 200 000 Menschen besteht und in einer mehrstufigen Hierarchie von Dörfern bis zu Stämmen organisiert ist. Natürlich hat kein Nuer von allen 199 999 anderen Nuer schon einmal gehört. Die politische Organisation ist schwach ausgeprägt: In jedem Dorf gibt es als Galionsfigur einen Häuptling, der aber, wie in Kapitel  2 genauer beschrieben wird, kaum echte Macht hat. Dennoch berichtet der Anthropologe Edward E. Evans-Pritchard: »Unter den Nuer werden unabhängig davon, woher sie stammen und ob sie sich kennen, sofort freundschaftliche Beziehungen hergestellt, wenn sie sich außerhalb ihres Landes treffen. Ein Nuer ist für einen anderen nie ein Fremder wie für einen Dinka oder einen Shilluk. Ihr Überlegenheitsgefühl, ihre Verachtung gegenüber allen Fremden und ihre Bereitschaft, gegen sie zu kämpfen, sind ein gemeinsames Band der Gemeinschaft, und die gemeinsame Sprache, aber auch gemeinsame Werte ermöglichen eine einfache Kommunikation.«
    Anders als kleinere Gesellschaften betrachten die Nuer Fremde also nicht mehr als bedrohlich, sondern als neutral oder sogar potentiell freundlich gesinnt – vorausgesetzt, es handelt sich ebenfalls um Nuer. Fremde, die nicht zu ihrem Volk gehören, werden entweder angegriffen (wenn sie Dinka sind) oder schlicht verachtet (wenn sie irgendeinem anderen Volk angehören). In noch größeren Gesellschaften mit einer Marktwirtschaft haben Fremde potentiell einen positiven Wert als zukünftige Geschäftspartner, Kunden, Lieferanten oder Arbeitgeber.
    Erste Kontakte
    Für traditionelle Kleingesellschaften führte die Unterteilung der Welt in die eigenen Freunde, benachbarte Gruppen, benachbarte Feinde und weiter entfernte Fremde zu sehr lokal begrenzten Kenntnissen über die Welt. Die Menschen kannten ihr eigenes Kerngebiet oder Territorium, und durch Besuche aufgrund gegenseitiger Nutzungsrechte oder vorübergehender Friedensphasen wussten sie viel über den Ring der unmittelbar angrenzenden Nachbarterritorien. Aber schon der nächste, zweite Ring nahe gelegener Territorien war ihnen in der Regel unbekannt: Wegen vorübergehender Feindseligkeiten mit Menschen aus dem ersten Ring konnte man diesen in Kriegszeiten nicht durchqueren und in den zweiten Ring gelangen; und wenn man mit einem Volk aus dem ersten Ring in Frieden lebte, befand sich dieses möglicherweise im Krieg mit seinen Nachbarn im zweiten Ring, was wiederum einen Besuch bei diesen Nachbarn unmöglich machte.
    Selbst Reisen in das Territorium der unmittelbaren Nachbarn (den ersten Ring) waren auch in Friedenszeiten mit Gefahren verbunden. Vielleicht wusste man nicht, dass diese Nachbarn gerade einen Krieg mit anderen Verbündeten des eigenen Volkes angefangen hatten und den Besucher deshalb nun als Feind betrachteten. Dann waren Gastgeber und Verwandte in der Nachbargesellschaft vielleicht nicht bereit oder in der Lage, den Besucher zu schützen. So beschreiben beispielsweise Karl Heider, Jan Broekhuijse und Peter Matthiessen einen Vorfall, der sich am 25 . August 1961 beim Volk der Dugum-Dani im Baliem Valley abspielte. Die Dani gliederten sich in mehrere Dutzend Konföderationen, und

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