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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Zur Zeit des friedlichen Kontakts mit Europäern zählten die Ache ungefähr 700  Personen, die in Horden von 15 bis 70  Menschen zusammenlebten, wobei mehrere Horden eine eng verbundene Gruppe bildeten. Insgesamt gab es vier solche Gruppen, zu denen zur Zeit des Kontakts zwischen 35 und 550  Menschen gehörten. Die Ache bezeichneten Mitglieder ihrer eigenen Gruppe als
irondy
(was bedeutete, dass sie üblicherweise die eigenen Leute oder Brüder waren), die der drei anderen Gruppen hießen
irolla
(»Ache, die nicht unsere Brüder sind«).
    In den großen Gesellschaften unserer Zeit, in denen die Bürger im eigenen Land und auf der ganzen Welt weit herumkommen, schließen wir Freundschaften nicht aufgrund der Gruppenzugehörigkeit, sondern auf der Grundlage der individuellen »Chemie«. Mit manchen unserer lebenslangen Freunde sind wir aufgewachsen oder zur Schule gegangen, andere haben wir auf unseren Reisen kennengelernt. Für eine Freundschaft ist entscheidend, ob man sich mag und gemeinsame Interessen hat, aber nicht, ob die eigene Gruppe mit der Gruppe des anderen politisch verbündet ist. Diese Vorstellung von persönlicher Freundschaft ist für uns etwas so Selbstverständliches, dass mir erst nach jahrelanger Arbeit in Neuguinea durch einen Zwischenfall klar wurde, wie stark sie sich von dem vorherrschenden Freundschaftsbegriff in den traditionellen Kleingesellschaften Neuguineas unterscheidet.
    An dem Vorfall war Yabu beteiligt, ein Neuguineer aus einem Dorf im zentralen Hochland. Dort hatte man die traditionelle Lebensweise praktiziert, bis ungefähr ein Jahrzehnt zuvor die Staatsmacht sich in der Gegend durchgesetzt hatte und die Stammeskriege aufgehört hatten. Im Rahmen meiner ornithologischen Forschungen nahm ich Yabu als einen meiner Freilandassistenten mit in ein Lager im südöstlichen Hochland, wo wir mehrere Tage Besuch von einem britischen Lehrer namens Jim bekamen. Yabu und Jim unterhielten sich oft, machten Witze, erzählten sich gegenseitig lange Geschichten und hatten offensichtlich Spaß daran, zusammen zu sein. Die Ortschaft im zentralen Hochland, in der Jim als Lehrer arbeitete, war nur ein paar Dutzend Kilometer von Yabus Dorf entfernt. Wenn Yabu seine Freilandtätigkeit bei mir abgeschlossen hatte, sollte er in sein Dorf zurückkehren, und zwar mit einem Flugzeug, das zum Flugplatz von Jims Wohnort flog, und von dort zu Fuß in sein Dorf gehen. Als nun Jim unser Lager verlassen wollte und sich von Yabu und mir verabschiedete, tat er etwas, das mir völlig natürlich vorkam: Er lud Yabu ein, auf dem Weg durch Jims Ortschaft bei ihm vorbeizukommen.
    Ein paar Tage nachdem Jim abgereist war, fragte ich Yabu, ob er vorhabe, Jim auf dem Heimweg zu besuchen. Darauf reagierte er überrascht und ein wenig empört, dass ich ihm eine solche Zeitvergeudung vorschlug: »Ihn besuchen? Wozu? Wenn er Arbeit oder eine bezahlte Stelle für mich hätte, würde ich es tun. Aber er hat keinen Job für mich. Natürlich mache ich nicht in seinem Ort Station und besuche ihn nur um der ›Freundschaft‹ willen!« (Das Gespräch wurde auf Tok Pisin geführt, der allgemein üblichen Sprache von Papua-Neuguinea; der Ausdruck, den ich hier als »nur um der Freundschaft willen« übersetzt habe, lautete »bilongprennating«). Zu meinem Erstaunen musste ich erkennen, dass ich eine falsche Annahme über angeblich allgemein-menschliche Eigenschaften gemacht hatte und nicht einmal auf die Idee gekommen war, sie in Frage zu stellen.
    Natürlich sollte man meine Erkenntnis nicht überbewerten. Auch in einer Kleingesellschaft mögen die Menschen manche ihrer Kollegen lieber als andere. Wenn kleine Gesellschaften größer werden oder nichttraditionellen äußeren Einflüssen ausgesetzt sind, verändern sich die traditionellen Sichtweisen einschließlich der Ansichten über Freundschaft. Dennoch ist der Unterschied zwischen den Vorstellungen von Freundschaft in großen und kleinen Gesellschaften, wie er sich in Jims Einladung und Yabus Reaktion darauf widerspiegelte, nach meiner Überzeugung im Durchschnitt tatsächlich vorhanden. Er ist kein falscher Eindruck, der dadurch entstand, dass Yabu auf einen Europäer anders reagierte, als er es gegenüber einem Neuguineer getan hätte. Ein anderer Freund aus dem Land, der sowohl mit der westlichen als auch mit der traditionellen neuguineischen Lebensweise vertraut ist, erklärte es mir so: »In Neuguinea gehen wir nicht einfach ohne Absicht jemanden besuchen. Wenn du gerade

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