Vermächtnis
zwei davon, die Gutelu- und die Widaia-Allianz, stritten sich um das Wohngebiet Dugum. In der Nähe befand sich – getrennt von ihnen – die Asuk-Balek-Konföderation; diese war von einer Splittergruppe der Gutelu gegründet worden, die ihr ursprüngliches Land aufgegeben und nach Kämpfen Zuflucht entlang des Flusses Baliem gesucht hatte. Vier Männer von den Asuk-Balek, die mit der Widaia-Allianz verbündet waren, besuchten Abulopak, einen Weiler der Gutelu, in dem zwei der Asuk-Balek-Männer Verwandte hatten. Was die Besucher nicht wussten: Die Widaia hatten kurz zuvor zwei Gutelus getötet, die Gutelus hatten vergeblich versucht, durch Tötung eines Widaia wieder Gleichstand herzustellen, und zwischen den Gutelus herrschten starke Spannungen.
Als nun die arglosen, mit den Widaia verbündeten Asuk-Baleks eintrafen, bot sich für die Gutelos von Abulopak die zweitbeste Gelegenheit zur Rache; nur einen Widaia zu töten, wäre noch besser gewesen. Die beiden Asuk-Baleks, deren Verwandte in Abulopak wohnten, wurden verschont, aber die beiden anderen, die dort keine Verwandten hatten, wurden angegriffen. Einem gelang es, zu fliehen. Der andere suchte Zuflucht auf dem Schlafboden einer Hütte, wurde aber heruntergezerrt und mit einem Speer getötet. Der Angriff war für die Bewohner von Abulopak der Anlass zu einem Freudenausbruch: Sie zerrten den noch nicht ganz toten Asuk-Balek über einen morastigen Pfad zu ihrem Tanzplatz. Dann tanzten sie die ganze Nacht vor Freude um den Leichnam. Schließlich warfen sie ihn in einen Bewässerungsgraben, drückten ihn unter Wasser und bedeckten ihn mit Gras. Am nächsten Morgen durften die beiden Asuk-Baleks, die Verwandte in Abulopak hatten, den Leichnam bergen. Der Vorfall macht deutlich, dass auf Reisen eine Vorsicht notwendig ist, die an Paranoia grenzt. Genauer werde ich mich in Kapitel 7 mit dieser »konstruktiven Paranoia«, wie ich sie nenne, beschäftigen.
Traditionell waren die Reisestrecken und das Gebiet, über das man Bescheid wusste, in Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte und konstanter Umwelt gering; war dagegen die Bevölkerung spärlich und die Umwelt wechselhaft, wuchsen sie an. Im Hochland Neuguineas mit seiner dichten Bevölkerung und seiner relativ stabilen Umwelt verfügten die Menschen nur über lokal eng begrenzte geographische Kenntnisse. Größer waren Reisestrecken und Kenntnisse in Gebieten mit stabiler Umwelt, aber geringer Bevölkerungsdichte (beispielsweise im Tiefland Neuguineas und in den von Pygmäen bewohnten afrikanischen Regenwäldern). Noch weiter gefasst schließlich waren sie in Regionen mit wechselhafter Umwelt und kleiner Bevölkerung (beispielsweise in Wüsten und im Landesinneren der Arktis). Die Bewohner der Andamaneninseln zum Beispiel wussten nichts über Stämme, die mehr als 30 Kilometer entfernt auf der gleichen Inselgruppe lebten. Die bekannte Welt der Dugum-Dani beschränkte sich im Wesentlichen auf das Baliem-Tal, das sie zum größten Teil von den Bergen aus übersehen konnten; besuchen konnten sie aber nur einen Teil des Tales, denn es war durch Kriegsfronten unterteilt, deren Überquerung Selbstmord gewesen wäre. Als man den Aka-Pygmäen eine Liste von bis zu 70 Orten gab und sie fragte, an welchen davon sie schon gewesen seien, kannten sie in einem Umkreis von 34 Kilometern nur die Hälfte der Orte und innerhalb von 68 Kilometern nur ein Viertel. Um diese Zahlen in den richtigen Zusammenhang zu stellen: Als ich in den 1950 er und 1960 er Jahren in England wohnte, hatten auch viele englische Landbewohner noch ihr ganzes Leben in ihrem Dorf oder in seiner Nähe verbracht, außer vielleicht wenn sie während des Ersten oder Zweiten Weltkrieges als Soldaten außer Landes gereist waren.
Kenntnisse über die Welt jenseits der Nachbarn in erster oder zweiter Reihe existierten in traditionellen, kleinen Gesellschaften also entweder gar nicht oder nur aus zweiter Hand. In den dicht besiedelten Gebirgstälern des Landesinneren von Neuguinea hatte beispielsweise niemand schon einmal den Ozean gesehen oder auch nur von ihm gehört, obwohl er nicht mehr als 80 bis 200 Kilometer entfernt ist. Die Hochlandbewohner gelangten zwar durch Handel in den Besitz der Gehäuse von Meerestieren und (nachdem Europäer an die Küste gekommen waren) einiger Äxte aus Stahl, die sie hoch schätzten. Aber Gehäuse und Äxte wurden durch Handel von einer Gruppe zur anderen weitergegeben und waren auf dem Weg von der Küste ins
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