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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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betreten, um zu jagen, Ressourcen zu stehlen oder eine heiratsfähige Frau zu entführen.
    In einer kleinen, lokal begrenzten Bevölkerung von einigen hundert Personen kennt man sicher jeden Einzelnen mit Namen und Gesicht, aber auch die Einzelheiten ihrer Verwandtschafts-, Ehe- und Adoptionsbeziehungen sowie die Verwandtschaft zu einem selbst. Nimmt man dann noch die freundlich gesonnenen Nachbarhorden hinzu, so umfasst das potentielle Universum der »Freunde« vielleicht etwas mehr als 1000 Menschen, darunter viele, die man nur vom Hörensagen kennt und selbst nicht gesehen hat. Nehmen wir nun einmal an, wir wären allein ein ganzes Stück von unserem eigenen Kerngebiet entfernt oder nahe der Grenze unseres eigenen Territoriums und treffen dort einen oder mehrere Menschen, die wir nicht kennen. Wenn es mehrere sind und man ist selbst allein, läuft man weg und umgekehrt. Wenn auf beiden Seiten nur eine Person steht und die beiden sich aus der Ferne sehen, laufen unter Umständen beide weg, wenn ein Blick auf einen Gleichstand der Kräfte schließen lässt (zum Beispiel weil es sich um zwei erwachsene Männer handelt und nicht um einen Mann, der einer Frau oder einem Kind gegenübertritt). Wenn wir aber um die Ecke biegen und plötzlich unerwartet einer anderen Person gegenüberstehen, so dass es zum Weglaufen zu spät ist, sind alle Voraussetzungen für eine Spannungssituation gegeben. Diese kann man auflösen, wenn beide sich hinsetzen, den eigenen Namen sowie den der eigenen Verwandten nennen und die Verwandtschaftsverhältnisse genauer erklären; im weiteren Verlauf bemüht man sich dann, einen gemeinsamen Verwandten zu nennen, damit auch zwischen den beiden Anwesenden eine Beziehung hergestellt ist und sie keinen Grund haben, aufeinander loszugehen. Können die beiden aber nach einem mehrstündigen Gespräch immer noch keinen gemeinsamen Verwandten benennen, ist es nicht möglich, sich einfach umzudrehen und zu sagen: »Nett, dich kennengelernt zu haben, auf Wiedersehen.« Stattdessen müssen einer oder beide den jeweils anderen für einen Eindringling halten, dessen Besuch nicht durch Verwandtschaft gerechtfertigt ist, und dann folgt wahrscheinlich die Vertreibung oder ein Kampf.
    Menschen, die in der Region von NyaeNyae den Dialekt der Zentralen !Kung sprechen, bezeichnen andere Sprecher dieser Sprache als
jũ/wãsi
. Dabei bedeutet

»Menschen«,
si
ist die Pluralendung, und

heißt ungefähr so viel wie wahrhaftig, gut, ehrlich, sauber, ungefährlich. Durch gegenseitige Besuche zwischen Verwandten in der Region NyaeNyae entstehen persönliche Bekanntschaften, die alle 19  Horden und sämtliche rund 1000  Mitglieder in dem Gebiet verbinden und sie für einander zu
jũ/wãsi
machen. Der Begriff für das Gegenteil lautet
jũ/dole
(wobei
dole
so viel wie schlecht, seltsam, gefährlich bedeutet) und wird auf alle Weißen und alle Schwarzen vom Volk der Bantu angewandt, aber auch auf !Kung, die zwar den gleichen Dialekt sprechen, aber zu weit entfernten Gruppen gehören, in denen man keine Verwandten oder Bekannten hat. Wie andere kleine Gesellschaften, so sind auch die !Kung scheu gegenüber Fremden. Wenn sie einen anderen !Kung treffen, gelingt es ihnen in der Praxis fast immer, irgendeinen Verwandtschaftsbegriff anzuwenden. Wenn man aber einen fremden !Kung trifft und beide ihre Verwandtschaftsbeziehungen dargelegt haben, ohne dass man eine Gemeinsamkeit findet, ist der andere ein Eindringling, den man vertreiben oder töten sollte.
    Ein Beispiel lieferte der !Kung-Mann Gao: Er unternahm auf Bitten der Anthropologin Lorna Marshall einen Botengang in einen Ort namens Khadum, der knapp im Norden außerhalb der Region NyaeNyae lag. Gao war nie zuvor in Khadum gewesen, und das Gleiche galt auch für die allermeisten anderen !Khung von NyaeNyae. Die !Kung in Khadum nannten Gao anfangs
jũ/dole
; das bedeutete zumindest einen frostigen Empfang und möglicherweise auch Ärger. Dann aber erklärte Gao sehr schnell, er habe gehört, dass jemand in Khadum den gleichen Namen trage wie sein Vater, und dass jemand anderes in Khadum einen Bruder habe, der Gao heiße wie er selbst. Daraufhin sagten die !Kung von Khadum zu Gao: »Dann bist du also der
!gun!a
von Gao [d.h. unserem Gao]« (
!gun!a
ist ein Verwandtschaftsbegriff). Anschließend ließen sie Gao an ihr Lagerfeuer und überreichten ihm Lebensmittel als Geschenk.
    Ähnlich werden Menschen auch bei den Ache-Indianern in Paraguay (Abb.  10 ) kategorisiert.

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