Vermächtnis
Brandrodung Gärten an, die nur wenige Jahre Lebensmittel lieferten und eine gewaltsame Verteidigung nicht lohnten. Territorien gab es nicht: In der Theorie standen alle Ressourcen sämtlicher Wälder und Flüsse allen Machiguenga zur Verfügung. In der Praxis hielten Gruppen aus mehreren Familien eine gewisse Distanz zum Heimatrevier ihrer Nachbarn. Ähnlich machten es auch die Siriono, die von Allen Holmberg studiert wurden: Sie lebten vom Jagen und Sammeln sowie von gelegentlicher Landwirtschaft und bildeten Gruppen von 60 bis 80 Personen, die kein abgegrenztes Territorium besaßen. Wenn aber eine solche Horde auf Jagdspuren traf, die eine andere Horde hinterlassen hatte, ging sie im Revier dieser anderen Horde selbst nicht auf die Jagd. Mit anderen Worten: Es herrschte eine gegenseitige informelle Vermeidungshaltung.
Was die Art der traditionellen Landnutzung angeht, gibt es also ein breites Spektrum: von genau markierten Territorien, die bewacht und verteidigt wurden und von denen man Außenstehende auf Leben und Tod fernhielt, über schlecht abgegrenzte Heimatreviere ohne klare Grenzen, die von Außenstehenden im Rahmen gegenseitiger Übereinkünfte genutzt werden konnten, bis zu Territorien, die nur durch formlose gegenseitige Vermeidung getrennt blieben. Keine traditionelle Gesellschaft tolerierte die relativ offene Reisefreiheit, deren sich Amerikaner und die Bürger der Europäischen Union heute erfreuen: Diese können in der Regel innerhalb der Vereinigten Staaten beziehungsweise der Europäischen Union reisen, wohin sie wollen, und auch viele andere Länder können sie besuchen, indem sie einfach einem Grenzbeamten einen gültigen Pass und ein Visum vorzeigen. (Der Anschlag auf das World Trade Center am 11 . September 2001 hat die Amerikaner natürlich auf das traditionelle Misstrauen gegenüber Fremden zurückgeworfen und zog auch Einschränkungen der Reisefreiheit in Form von Flugverbotslisten und Flughafen-Sicherheitskontrollen nach sich.) Man kann aber auch die Ansicht vertreten, dass unser modernes System der relativ offenen Zugänglichkeit nichts anderes ist als eine Erweiterung der traditionellen Zugangsrechte und -beschränkungen. Traditionelle Völker, die in Gesellschaften von wenigen hundert Personen leben, erhalten Zugang zum Land anderer, weil sie sich persönlich kennen, individuelle Beziehungen pflegen und individuell um Erlaubnis fragen. In unseren Gesellschaften mit Hunderten von Millionen Menschen erweitert sich die Definition von »Beziehung« auf alle Bürger unseres Staates oder befreundeter Staaten, und die Bitte um Erlaubnis sowie ihre Gewährung erhalten in Form von Reisepässen und Visa einen formalen Rahmen.
Freunde, Feinde, Fremde
Alle diese Einschränkungen der Freizügigkeit haben zur Folge, dass Mitglieder kleiner Gesellschaften die Menschen in drei Kategorien einteilen: Freunde, Feinde und Fremde. »Freunde« sind die Mitglieder der eigenen Horde oder des eigenen Dorfes und jene Angehörige von Nachbarhorden oder -dörfern, mit denen die eigene Horde derzeit friedliche Beziehungen pflegt. »Feinde« gehören zu benachbarten Horden und Dörfern, die zur eigenen Horde im Augenblick feindselig eingestellt sind. Dennoch kennt man vermutlich zumindest die Namen und Verwandtschaftsverhältnisse sowie möglicherweise auch das Äußere vieler oder der meisten Personen in solchen feindlichen Horden, denn man hat bereits von ihnen gehört oder sie in Phasen des Waffenstillstands während Schadenersatzverhandlungen, in Friedenszeiten aufgrund wechselnder Allianzen oder beim Austausch von Bräuten (oder gelegentlich männlicher Heiratskandidaten) kennengelernt. Ein Beispiel sind die beiden Männer vom Fluss, die in das Dorf meiner Freunde im Gebirge eingeheiratet hatten.
Die letzte Kategorie schließlich sind die »Fremden«, unbekannte Mitglieder weit entfernter Horden, zu denen die eigene Horde nur wenig oder gar keine Kontakte hat. Mitglieder kleiner Gesellschaften begegnen nur selten oder nie Fremden, denn in ein unbekanntes Gebiet zu reisen, dessen Bewohner man nicht kennt oder mit denen man nicht verwandt ist, wäre geradezu Selbstmord. Trifft man zufällig einen Fremden auf dem eigenen Territorium, muss man annehmen, dass diese Person gefährlich ist: Angesichts der Gefahren bei Reisen in unbekannte Gebiete handelt es sich bei dem Fremden aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Kundschafter, der einen Überfall oder einen Mord vorbereiten will, oder er hat das Revier
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