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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Hochland durch viele Hände gegangen. Es war wie in dem Kinderspiel »Stille Post«, bei dem die Kinder in einer Reihe oder im Kreis sitzen, und eines flüstert dem nächsten etwas zu, bis das, was das letzte Kind hört, keine Ähnlichkeit mehr mit der ursprünglichen Äußerung hat: Als Gehäuse und Äxte das Hochland erreichten, waren alle Kenntnisse über die Umwelt und die Menschen, von denen die Waren stammten, verloren gegangen.
    In vielen Kleingesellschaften fanden diese traditionellen Begrenzungen des Wissens um die Welt durch den sogenannten »Erstkontakt« ein abruptes Ende: Jetzt waren die europäischen Kolonialherren, Entdecker, Kaufleute und Missionare der lebende Beweis für die Existenz einer zuvor unbekannten Außenwelt. Bei den letzten Völkern, die heute noch »ohne Kontakt« sind, handelt es sich um wenige Gruppen in abgelegenen Regionen Neuguineas und des tropischen Südamerika, aber auch diese verbliebenen Gruppen wissen zumindest über die Existenz der Außenwelt Bescheid, denn sie haben Flugzeuge durch die Luft fliegen sehen und von benachbarten Gruppen, die bereits Kontakt hatten, von den Außenstehenden gehört. (Mit »Kontakt« meine ich die Berührung zu Außenstehenden aus weiter entfernten Regionen, beispielsweise zu Europäern und Indonesiern; natürlich hatten auch Gruppen »ohne Kontakt« seit Jahrtausenden Berührung mit anderen Bewohnern Neuguineas oder südamerikanischen Indianern.) Als ich beispielsweise in den 1990 er Jahren in den Star Mountains in Neuguinea war, erzählten mir meine Gastgeber, die einige Jahrzehnte zuvor ihren Erstkontakt mit Holländern erlebt hatten, von einer Gruppe weiter nördlich, die noch keinen Kontakt gehabt hatte, das heißt, dort waren bisher weder Missionare noch andere Außenstehende gewesen. (Missionare schicken in der Regel zur Vorsicht einen Boten von einer Nachbargruppe, mit der sie bereits Kontakt hatten, und lassen anfragen, ob ein Missionar willkommen wäre, statt sich selbst der Gefahr auszusetzen und unangemeldet hinzugehen.) Aber diese Bewohner der Star Mountains, die noch keinen Kontakt gehabt hatten, mussten von Nachbargruppen, mit denen sie in Verbindung standen, bereits von Europäern und Indonesiern gehört haben. Außerdem hatte die »nicht kontaktierte« Gruppe seit Jahren Flugzeuge über sich hinwegfliegen sehen, darunter auch das, mit dem ich im Dorf ihrer Nachbarn angekommen war. Auch die letzten Gruppen der Welt, die noch keinen Kontakt hatten, wissen also heute, dass es eine Außenwelt gibt.
    Ganz anders waren die Verhältnisse, als die Europäer ab 1492 begannen, sich über die ganze Welt auszubreiten. Dabei »entdeckten« sie Menschen, lange bevor diese durch Überflüge auf eine Außenwelt aufmerksam gemacht wurden. Wie wir noch genauer erfahren werden, spielten sich die letzten umfangreichen Erstkontakte der Weltgeschichte im Hochland Neuguineas ab: Dort »entdeckten« australische und niederländische Militär- und Regierungsexpeditionen, Bergleute auf der Suche nach Bodenschätzen und biologische Expeditionen zwischen den 1930 er und 1950 er Jahren eine Million Hochlandbewohner, von deren Existenz die Außenwelt bisher nichts gewusst hatte und umgekehrt – und das, obwohl Europäer bereits 400  Jahre zuvor die Küsten Neuguineas besucht und sich dort niedergelassen hatten. Bis in die 1930 er Jahre wurden Erstkontakte in Neuguinea von Europäern hergestellt, die auf dem Land- oder Wasserweg auf Entdeckungsreise gegangen waren; der erste Beweis, dass es Europäer gab, war damals für die Hochlandbewohner deren körperliches Eintreffen. Seit den 1930 er Jahren gingen dann in der Regel Überflüge mit Flugzeugen den Expeditionen auf dem Landweg voraus und warnten die Hochlandbewohner, dass es da draußen etwas Neues gibt. Die dichteste Bevölkerung im Hochland im Westen Neuguineas, die rund 100 000 Menschen im Baliem-Tal, wurde am 23 . Juni 1938 »entdeckt«: Damals flog ein Flugzeug, das zu einer Gemeinschaftsexpedition des American Museum of Natural History und der niederländischen Kolonialregierung gehörte, von dem Ölbaron Richard Archbold finanziert wurde und die Tier- und Pflanzenwelt Neuguineas erforschen sollte, über ein gebirgiges Gelände, von dem man zuvor angenommen hatte, es sei zerklüftet, bewaldet und unbewohnt. Stattdessen blickten Archbold und seine Mannschaft zu ihrem Erstaunen auf ein breites, flaches, gerodetes Tal hinab, das kreuz und quer von einem dichten Netz aus Bewässerungsgräben überzogen

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