Vermächtnis
getötet, und man hätte auch seine Mitfahrer aus dem Wagen gezerrt und umgebracht. Aber Malo besaß die Geistesgegenwart, zur nächsten Polizeistation zu fahren und sich dort zu stellen. Die Polizei hielt die Passagiere zu ihrer eigenen Sicherheit vorübergehend fest und eskortierte Malo, ebenfalls zu seiner eigenen Sicherheit, zurück in sein Dorf, wo er die nächsten paar Monate bleiben musste.
Die nachfolgenden Ereignisse machen deutlich, wie die Neuguineer und viele andere Völker, die im Wesentlichen nicht der Kontrolle durch eine leistungsfähige, von staatlicher Seite eingerichtete Justiz unterliegen, dennoch Gerechtigkeit erlangen und Meinungsverschiedenheiten durch eigene, traditionelle Mechanismen beilegen. Solche Mechanismen zur Konfliktlösung waren wahrscheinlich während der ganzen Vorgeschichte wirksam, bis vor rund 5400 Jahren der Aufstieg der Staaten mit ihren festgeschriebenen Gesetzen, Gerichten, Richtern und Polizei begann. Die Geschichte von Billy und Malo steht im Gegensatz zu einem Fall, über den ich im nächsten Kapitel berichten werde; auch er wurde mit traditionellen Mitteln beigelegt, aber die waren genau das Gegenteil von der Vorgehensweise bei Billy und Malo: Rachemord und Krieg. Je nach den Umständen und den beteiligten Parteien werden Konflikte in traditionellen Gesellschaften entweder friedlich gelöst oder aber, wenn der friedliche Weg scheitert oder gar nicht erst versucht wird, durch Krieg.
Der friedliche Prozess umfasst »Schadenersatz«. (Wie wir noch genauer erfahren werden, ist diese Übersetzung des neuguineischen Begriffes eigentlich irreführend; den Schaden durch den Tod eines Kindes kann man nicht ersetzen, und das ist auch nicht das Ziel. Auf Tok Pisin, der Lingua franca Neuguineas, lautet der Begriff »sorimoney«, das bedeutet »sorry money« oder »Tut-mir-leid-Geld«; diese Übersetzung ist eher angemessen, denn sie beschreibt zutreffend, dass das Geld aufgrund gemeinsamer Trauer oder als Entschuldigung für das Geschehene gezahlt wird.) Über den traditionellen Schadenersatz nach Billys Tod berichtete mir ein Mann namens Gideon; er war damals der örtliche Filialleiter der Firma, bei der Malo als Fahrer angestellt war, und beteiligte sich an dem nachfolgenden Prozess. Wie ich dabei erfuhr, haben die traditionellen Gerechtigkeitsmechanismen in Neuguinea grundsätzlich andere Ziele als eine staatliche Justiz. Zwar glaube auch ich, dass eine staatliche Justiz große Vorteile hat und zur Beilegung vieler Meinungsverschiedenheiten zwischen Staatsbürgern und insbesondere zwischen Fremden unentbehrlich ist, ich habe aber mittlerweile den Eindruck, dass wir von den traditionellen Gerechtigkeitsmechanismen viel lernen können, wenn die Beteiligten einander nicht fremd sind, sondern auch nach der Beilegung des Konflikts in einer Beziehung gefangen sein werden, wie beispielsweise Nachbarn, Geschäftspartner, geschiedene Eltern oder Geschwister, die sich um ein Erbe streiten.
Eine Zeremonie
Da die Gefahr bestand, dass die Mitglieder von Billys Clan gegen Malo, Gideon und andere Mitarbeiter ihrer Firma Vergeltung üben würden, sagte Gideon dem Personal, sie sollten am Tag nach dem Unfall nicht zur Arbeit kommen. Gideon selbst blieb allein in seinem Büro. Es befand sich auf einem abgeschlossenen, bewachten Anwesen nur hundert Meter von dem Haus entfernt, in dem er und seine Familie wohnten. Er wies die Wachleute an, besonders aufmerksam zu sein, keine Fremden einzulassen und insbesondere nach Tieflandbewohnern Ausschau zu halten und sie fernzuhalten. Aber als Gideon im Laufe des Vormittags von seinem Schreibtisch aufblickte, sah er dennoch zu seinem Entsetzen drei kräftige Männer, die am Aussehen als Tieflandbewohner zu erkennen waren, vor dem Fenster an der Rückseite seines Büros stehen.
Gideons erster Gedanke war: Entweder ich lächle sie an, oder ich laufe weg. Aber dann fiel ihm ein, dass seine Frau und seine kleinen Kinder in der Nähe waren, und mit Weglaufen hätte er nur sein eigenes Leben gerettet. Er zwang sich zu einem Lächeln, und den drei Männern gelang es, zurückzulächeln. Gideon ging zu dem Bürofester und öffnete es. Ihm war klar, dass diese Handlung augenblicklich tödliche Folgen haben konnte, aber er hatte keine Wahl: Die Alternative wäre noch schlimmer gewesen. Einer der drei Männer – wie sich herausstellte, war es Peti, der Vater des toten Jungen – fragte Gideon: »Kann ich in dein Büro kommen und mit dir reden?« (Dieser
Weitere Kostenlose Bücher