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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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dass die Pflege von Allianzen der eigentliche Zweck des Handels ist.
    Manche Handelsnetze und Zeremonien – beispielsweise der Kula-Ring der Trobriand-Inselbewohner, der zeremonielle Austausch von Tee beim Volk der Enga im Hochland Neuguineas und das Handelsnetz der Siassi, das ich auf der Insel Malai kennenlernte – wurden in ihren jeweiligen Gesellschaften zum wichtigsten Mittel, um Status zu erwerben und zu zeigen. Uns mag es töricht erscheinen, dass die Siassi-Inselbewohner ihre Fracht monatelang mit dem Kanu über das gefährliche Meer transportieren, nur um am Jahresende bei einem Festmahl so viele Schweine wie möglich zu verspeisen – aber dann sollten wir uns einmal fragen, was die Siassi-Inselbewohner über Amerikaner denken müssen, die sich abrackern, um teuren Schmuck und Sportwagen zur Schau zu stellen.
    Winzige Nationen
    Die traditionellen Gesellschaften der Vergangenheit und auch jene, die sich bis heute erhalten haben, verhielten sich also wie winzige Nationen. Sie behaupteten ihre eigenen Territorien oder Kerngebiete, und in manchen Fällen zogen, verteidigten und bewachten sie ihre Grenzen ebenso rigoros wie moderne Staaten. Was die Außenwelt anging, verfügten sie über viel stärker begrenzte Kenntnisse als die Bürger moderner Staaten, die durch Fernsehen, Telefon und Internet zunehmend selbst dann über die übrige Welt Bescheid wissen, wenn sie ihre Heimat nie verlassen haben. Sie teilten andere Menschen so streng in Freunde, Feinde und Fremde ein, wie es heute nicht einmal Nordkorea tut. Manchmal schlossen sie Ehen mit Angehörigen anderer Nationen. Wie moderne Staaten trieben sie Handel miteinander, aber für ihre Handelsbeziehungen spielten politisch-gesellschaftliche Motive eine viel größere Rolle als für uns. In den nächsten drei Kapiteln werden wir der Frage nachgehen, wie diese winzigen Nationen den Frieden aufrechterhielten und wie sie Krieg führten.

Teil II Frieden und Krieg
    Kapitel  2 Schadenersatz für den Tod eines Kindes
    Ein Unfall
    Ein Spätnachmittag gegen Ende der Trockenzeit. Auf einer Straße in Papua-Neuguinea überfährt ein Mann namens Malo mit seinem Auto unabsichtlich den Schuljungen Billy. Billy war mit einem öffentlichen Minibus (keinem gekennzeichneten Schulbus) auf dem Heimweg von der Schule, und sein Onkel Genjimp wartete auf der anderen Straßenseite auf ihn. Malo, der als Fahrer für eine kleine Firma am Ort tätig war, brachte die Büroangestellten nach Feierabend nach Hause und fuhr in entgegengesetzter Richtung zu dem Minibus, in dem Billy saß. Als Billy aus dem Fahrzeug sprang, sah er seinen Onkel Genjimp und rannte quer über die Straße zu ihm hin. Dabei lief er aber nicht vor dem Minibus vorüber, wo Malo und der übrige Gegenverkehr ihn hätten sehen können, sondern er rannte außer Sichtweite hinter dem Bus los und war für Malo erst zu erkennen, als er mitten auf die Straße schoss. Malo konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten: Die Motorhaube seines Wagens traf Billy am Kopf und wirbelte ihn durch die Luft. Onkel Genjimp brachte den Jungen sofort ins Krankenhaus, aber dort erlag Billy einige Stunden später seinen schweren Kopfverletzungen.
    In den Vereinigten Staaten erwartet man von einem Autofahrer, der in einen Unfall verwickelt ist, dass er an Ort und Stelle bleibt, bis die Polizei kommt. Fährt er weg, ohne sich bei der Polizei zu melden, begeht er Fahrerflucht, und die wird als Verbrechen eingestuft. In Papua-Neuguinea und auch in einigen anderen Ländern lässt das Gesetz zu, was auch die Polizei und der gesunde Menschenverstand einem sagen: Der Verursacher soll nicht am Unfallort bleiben, sondern unmittelbar zur nächsten Polizeistation fahren. Der Grund: Anderenfalls besteht die Gefahr, dass wütende Zeugen den Fahrer aus seinem Wagen zerren und an Ort und Stelle totschlagen, selbst wenn der Fußgänger an dem Unfall schuld war. Noch größer war die Gefahr für Malo und seine Passagiere, weil er zu einer anderen ethnischen Gruppe gehörte als Billy, und das ist in Papua-Neuguinea oftmals ein Anlass für Konflikte. Malo stammte aus der Gegend und wohnte in einem nahe gelegenen Dorf, Billy dagegen gehörte zu einer Gruppe von Tieflandbewohnern, deren Ursprung viele Kilometer entfernt lag. In der Nähe des Unfallortes wohnten viele Tieflandbewohner, die zum Arbeiten in die Region eingewandert waren. Wenn Malo angehalten hätte und ausgestiegen wäre, um Billy zu helfen, hätten die Umstehenden ihn mit großer Wahrscheinlichkeit

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