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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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oder sogar
die
Hauptursache für Kriege. Als der Anthropologe Napoleon Chagnon die Gelegenheit hatte, einem Yanomamo-Häuptling zu erzählen, wie die Völker aus Chagnons »Gruppe« (das heißt Amerikaner und Briten) ihre Feinde (die Deutschen) »überfielen«, vermutete der Häuptling: »Ihr habt sie vermutlich wegen Frauendiebstahl überfallen, oder?« Dieses Motiv spielt für die modernen großen Staatsgesellschaften keine Rolle mehr. Der Ausbruch des Trojanischen Krieges nach der Entführung von Menelaos’ Frau Helena durch Paris zeigt jedoch, dass Frauen zumindest bis in die Zeit der antiken Kleinstaaten hinein ein
casus belli
waren.
    Wenn uns auffällt, dass Neuguineer die Frauen als Kriegsgrund auf eine Stufe mit Schweinen stellen, so müssen wir daran denken, dass Schweine für einen Neuguineer nicht nur Nahrung und die ergiebigsten verfügbaren Proteinlieferanten sind: Sie stellen auch die wichtigste Währung für Wohlstand und Prestige dar, und man kann sie als unverzichtbare Bestandteile eines Brautpreises gegen Frauen eintauschen. Wie Frauen, so neigen auch Schweine dazu, zu wandern und ihre »Eigentümer« zu verlassen, man kann sie leicht entführen oder stehlen, und damit werden sie zum Anlass für endlose Konflikte.
    Bei Völkern außerhalb Neuguineas treten andere Haustiere, insbesondere Kühe und Pferde, als Maßstab für Reichtum und Ursache für Konflikte an die Stelle der Schweine. Die Nuer sind auf Kühe ebenso versessen wie die Neuguineer auf Schweine, und wenn Nuer die Dinka oder andere Nuer-Stämme überfallen, ist ihr wichtigstes Ziel der Rinderdiebstahl. Ebenso werden die Kühe bei den Nuer zum Anlass für Diskussionen um Handel und Schadenersatz (»Du hast mir nicht die Kühe gezahlt, die du mir versprochen hast«). Ein Nuer-Mann fasste es (nach einem Zitat von Evans-Pritchard) so zusammen: »Um einer Kuh willen sind mehr Menschen gestorben als aus jedem anderen Grund.« Bei den Indianern im Großen Becken Nordamerikas, aber auch bei den Völkern der asiatischen Steppen spielten Pferde und Pferdediebstahl als Kriegsauslöser die Rolle von Kühen und Schweinen. Neben Frauen und Tieren führten auch viele andere materielle Besitztümer zum Krieg, weil sie begehrt, gestohlen oder zum Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Völkern wurden.
    Kleingesellschaften ziehen nicht nur in den Krieg, um sich Frauen als Ehepartnerinnen zu verschaffen, sondern auch um Menschen zu anderen Zwecken in ihre Gewalt zu bringen. Die Nuer nahmen Dinka-Kinder gefangen und zogen sie als Nuer groß, um damit ihre eigene Zahl zu vergrößern. Zur langen Liste der Kopfjäger, die in den Krieg zogen, um Feinde wegen ihrer Köpfe gefangen zu nehmen und zu töten, gehörten die Asmat und Marind in Neuguinea, das Volk der Roviana auf den Salomonen und verschiedene Völker in Asien, Indonesien, den Pazifikinseln, Irland, Schottland, Afrika und Südamerika. Zu den Kannibalenvölkern, die gefangene oder tote Feinde aßen, gehörten die Cariben, manche Völker in Afrika und Amerika, einige Gruppen in Neuguinea und viele Bewohner der Pazifikinseln. Die Gefangennahme von Feinden, die als Sklaven verwendet werden sollten, wurde von einigen komplizierteren Häuptlingstümern und Stammesgesellschaften praktiziert, beispielsweise im Nordwesten Neuguineas, im Westen der Salomoneninseln, bei den amerikanischen Ureinwohnern an der nordwestlichen Pazifikküste Nordamerikas sowie in Florida und in Westafrika. In großem Stil wurde die Sklaverei auch von vielen, vielleicht sogar den meisten Staatsgesellschaften praktiziert, so im alten Griechenland, im Römischen Reich, in China, im Osmanischen Reich und in den europäischen Kolonien in der Neuen Welt.
    Darüber hinaus werden mindestens zwei weitere Gründe häufig von traditionellen Völkern selbst als Kriegsmotive genannt. Einer ist Zauberei: In Neuguinea und vielen anderen kleinen Gesellschaften macht man für negative Vorkommnisse (beispielsweise Krankheiten oder Todesfälle, die wir als natürlich bezeichnen würden) regelmäßig einen feindlichen Zauberer verantwortlich, der dann identifiziert und getötet werden muss. Der zweite ist die verbreitete Ansicht, die Nachbarn seien von ihrem Wesen her schlecht, feindselig, minderwertig und heimtückisch, und deshalb hätten sie es verdient, angegriffen zu werden, ganz gleich, ob sie in jüngerer Zeit irgendeine spezifische Missetat verübt haben. Ein Beispiel aus Neuguinea habe ich in Kapitel  3 bereits genannt: Als ein

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