Vermächtnis
indigene Völker aus dem Weg zu räumen, indem man sie erobert, enteignet oder sich gegenüber ihrer Ausrottung blind stellt. Man brandmarkt sie als kriegslüstern und schafft damit eine Ausrede, mit der man solche Misshandlungen rechtfertigt, und Wissenschaftler wollen dann diese Ausrede gegenstandslos machen, indem sie die indigenen Völker vom Vorwurf der Kriegslüsternheit freisprechen.
Wissenschaftler, die über die Misshandlung indigener Völker empört sind, haben meine volle Sympathie. Aber die Realität der traditionellen Kriegsführung wegen ihres politischen Missbrauchs zu leugnen, ist eine schlechte Strategie, und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem auch das Leugnen jeder anderen Realität aus jedem anderen lobenswerten politischen Grund eine schlechte Strategie ist. Dass man indigene Völker nicht schlecht behandeln soll, ist nicht damit zu begründen, dass sie fälschlich der Kriegslüsternheit beschuldigt würden, sondern nur damit, dass eine solche schlechte Behandlung ungerecht ist. Für die traditionelle Kriegsführung gilt das Gleiche wie für jedes andere umstrittene Phänomen, das man beobachten und studieren kann: Am Ende kommen die Tatsachen ans Licht. Wenn das geschieht und wenn die Wissenschaftler dann die Realität der traditionellen Kriegsführung aus lobenswerten politischen Gründen geleugnet haben, untergräbt die Enthüllung der Tatsachen ihre begrüßenswerten politischen Bestrebungen. Die Rechte indigener Völker sollte man aus moralischen Gründen durchsetzen, und nicht weil man unwahre Behauptungen aufgestellt hat, die anfällig für eine Widerlegung sind.
Kriegslüsterne Tiere, friedliche Völker
Wenn man Krieg so definiert, wie ich es oben getan habe – als »immer wiederkehrende Gewalt zwischen Gruppen, die zu konkurrierenden politischen Einheiten gehören, wobei die Gewalt von diesen Einheiten gutgeheißen wird« – und wenn man dann einen weit gefassten Begriff von »politische Einheiten« und »gutheißen« anwendet, kennzeichnet Krieg nicht nur die Menschen, sondern auch manche Tierarten. Die Spezies, die in Debatten über die Kriege der Menschen am häufigsten genannt wird, ist der Gemeine Schimpanse, denn er ist einer unserer beiden engsten Verwandten im Tierreich. Konflikte unter Schimpansen ähneln den Kriegen unter Horden und Stämmen von Menschen: Sie bestehen entweder aus zufälligen Begegnungen oder aus offensichtlich absichtlichen Überfällen, an denen sich ausgewachsene Männchen beteiligen. Bei Schimpansen liegt die kriegsbedingte Sterblichkeit den Berechnungen zufolge bei 0 , 36 Prozent im Jahr (das heißt 36 Schimpansen pro Jahr in einer Population von 10 000 Individuen) und damit in einer ähnlichen Größenordnung wie in traditionellen Gesellschaften der Menschen. Heißt das, dass die Kriegsführung in gerader Linie von unseren Schimpansenvorfahren auf die Menschen weitergegeben wurde? Hat sie demnach eine genetische Grundlage, sind wir demnach hilflos zur Kriegsführung programmiert, ist sie demnach unausweichlich und lässt sie sich nicht verhindern?
Die Antwort auf alle vier Fragen lautet »Nein«. Schimpansen sind nicht die Vorfahren der Menschen; vielmehr stammen Schimpansen und Menschen von einem gemeinsamen Vorfahren ab, der vor ungefähr 6 Millionen Jahren lebte und von dem die heutigen Schimpansen sich möglicherweise sogar stärker unterscheiden als die heutigen Menschen. Es stimmt nicht, dass alle Nachkommen dieses gemeinsamen Vorfahren Krieg führen: Die Bonobos (früher Zwergschimpansen genannt), die genetisch von uns ebenso weit entfernt sind wie die Schimpansen und damit den zweiten unserer nächsten Verwandten unter den Tieren darstellen, stammen ebenfalls von diesem gemeinsamen Vorfahren ab, aber dass sie Krieg führen, hat man nie beobachtet; und auch manche traditionellen menschlichen Gesellschaften führen keine Kriege. Unter anderen sozialen Tierarten finden in manchen Fällen (zum Beispiel bei Löwen, Wölfen, Hyänen und manchen Ameisenarten) tödliche Konflikte zwischen Gruppen statt, bei anderen ist so etwas nicht bekannt. Offensichtlich entwickelt sich Krieg immer wieder unabhängig, aber er ist weder bei sozialen Tieren im Allgemeinen noch bei der Evolutionslinie von Menschen und Schimpansen im Besonderen oder bei den modernen menschlichen Gesellschaften unvermeidlich. Nach Ansicht von Richard Wrangham unterscheiden sich soziale Tierarten, die Krieg praktizieren, in zweierlei Hinsicht von solchen, die es nicht tun:
Weitere Kostenlose Bücher