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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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finden wir jedoch bei den Nuer: Ihre Stämme kämpften zwar sowohl gegen andere Nuer-Stämme als auch gegen die Dinka, Kämpfe mit den Dinka kamen jedoch häufiger vor, und im Kampf gegen Nuer beachteten sie Einschränkungen, die für die Konflikte mit den Dinka nicht galten. So töteten sie beispielsweise keine Nuer-Frauen und -Kinder, sie nahmen keine Nuer als Gefangene, und sie brannten keine Hütten der Nuer nieder; vielmehr beschränkten sie sich darauf, Nuer-Männer zu töten und den Nuer ihre Rinder zu stehlen.
    Was die Auswirkungen von Handel und Eheschließungen angeht, so legen Einzelfallberichte ebenfalls die Vermutung nahe, dass es sich bei den Feinden einer traditionellen Gesellschaft häufig um dieselben Personen handelt, die auch Handels- und Ehepartner sind. Lawrence Keeley formulierte es so: »Viele Gesellschaften neigen dazu, mit den Menschen zu kämpfen, die sie heiraten, und diejenigen zu heiraten, mit denen sie kämpfen; sie überfallen Menschen, mit denen sie Handel treiben, und handeln mit ihren Feinden.« Die Gründe sind die gleichen, die auch bei Staaten diese Folgen nach sich ziehen: Nachbarschaft begünstigt Handel und Eheschließungen, aber auch den Krieg; und sowohl der Handel als auch Eheschließungen geben den Mitgliedern von Kleingesellschaften ebenso Anlass zu Meinungsverschiedenheiten wie modernen Staaten. Im Rahmen der sogenannten »Handelsbeziehungen« tauschen Nachbargesellschaften manchmal tatsächlich Waren zu bestimmten Preisen aus, aber das Spektrum der Wechselkurse reicht dabei von echtem Handel (freiwilliger Austausch zwischen gleichstarken Parteien zu fairen Preisen) über »Erpressung« (ungleicher Austausch zu unfairen Preisen zwischen einer starken und einer schwachen Partei, wobei die schwache Partei ihre Waren zu niedrigen Preisen abgibt, um sich damit Frieden zu erkaufen) bis zu Überfällen (eine Partei »liefert« Waren, bekommt dafür aber keine Gegenleistung; dies geschieht, wenn eine Partei sehr schwach ist, so dass die andere sie überfallen kann und Waren ohne Bezahlung erhält). Berühmt für ihre Überfälle waren beispielsweise die Apachen im Südwesten der Vereinigten Staaten und die Tuareg in den nordafrikanischen Wüsten, sie praktizierten eigentlich eine raffinierte Mischung aus gerechtem Handel, Erpressung und Überfällen, je nachdem, inwieweit ihre Partner zu dem jeweiligen Zeitpunkt in der Lage waren, sich zu verteidigen.
    Eheschließungen zwischen verschiedenen Horden oder Stämmen führen oft aus ganz ähnlichen Gründen zum Krieg wie vergiftete Handelsbeziehungen. Ein Stamm verspricht ein neugeborenes Mädchen schon bei der Geburt einem älteren Mann eines anderen Stammes als Braut und wird dafür bezahlt, aber wenn das Mädchen die Pubertät erreicht hat, wird es nicht abgeliefert. Ein Brautpreis oder eine Mitgift wird vereinbart und zunächst auch in Raten gezahlt, dann aber bleibt eine Rate aus. Meinungsverschiedenheiten über die Qualität der »Ware« (zum Beispiel Ehebruch, Verlassen des Ehepartners, Ehescheidung oder die Unfähigkeit oder Weigerung zu kochen, den Garten zu versorgen oder Brennholz zu holen) führen zu Forderungen nach einer Rückzahlung des Brautpreises, diese werden aber abgelehnt, weil der angebliche Qualitätsmangel in Frage gestellt wird und/oder weil die erhaltene Zahlung bereits anderweitig ausgegeben oder (wenn es sich um ein Schwein handelte) aufgegessen wurde. Jeder Verbraucher, Geschäftsinhaber, Exporteur oder Importeur, der diesen Absatz liest, wird Analogien zu den Problemen erkennen, mit denen Kaufleute es in modernen Staaten zu tun haben.
    Kämpfe gegen Personen, mit denen man durch Eheschließung verbunden ist, führen in Kriegszeiten häufig zu Loyalitätskonflikten. Manche Feinde sind die eigenen Schwäger oder Blutsverwandte. Wenn ein Krieger einen Pfeil abschießt oder einen Speer wirft, muss er möglichst so zielen, dass auf der anderen Seite kein Verwandter getroffen wird. Wenn eine Inuit-Frau nach der Heirat zur Gruppe ihres Ehemannes zieht und die Blutsverwandten in ihrer Herkunftsgesellschaft einen Überfall auf das Volk des Ehemannes planen, wird sie häufig im Voraus gewarnt, damit sie sich aus dem Überfall heraushalten kann und nicht selbst getötet wird. Erfährt sie umgekehrt vom Volk ihres Mannes, dass ein Überfall auf ihre Blutsverwandten geplant ist, kann sie diese warnen – oder auch nicht; sie kann sich entweder auf die Seite ihrer angeheirateten Verwandten oder auf die ihrer

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