Vermächtnis
Soldaten oder die Leiche eines von Japanern getöteten amerikanischen Angehörigen gesehen hatten; meine Freunde in Neuguinea dagegen hatten die Leichen ihrer Angehörigen vor Augen. Hunderttausende amerikanische Männer meldeten sich freiwillig, um Hunderttausende von Japanern zu töten; dies geschah häufig buchstäblich im Kampf Mann gegen Mann mit brutalen Methoden unter Verwendung von Bajonetten und Flammenwerfern. Soldaten, die Japaner in besonders großer Zahl oder mit bemerkenswerter Tapferkeit getötet hatten, wurden öffentlich mit Orden dekoriert, und die im Kampf Gefallenen wurden nach dem Tod als Helden geehrt, die einen edlen Tod gestorben waren.
Dann jedoch, noch nicht einmal vier Jahre nach Pearl Harbor, sagte man uns Amerikanern, wir sollten die Japaner nicht mehr hassen und töten und den Slogan »Remember Pearl Harbor!«, der das Leben in Amerika beherrscht hatte, vergessen. Viele Amerikaner, die während jener Jahre lebten, schlugen sich während ihres gesamten weiteren Lebens mit dem herum, was sie zuerst gelernt hatten und später verlernen sollten – insbesondere wenn sie damals unmittelbar betroffen waren, beispielsweise weil sie den Todesmarsch von Bataan überlebt hatten oder weil enge Freunde oder Angehörige nicht mehr nach Hause gekommen waren. Und doch war dieses Erbe der amerikanischen Haltung das Ergebnis von nur vierjähriger Erfahrung, in den meisten Fällen aus zweiter Hand. Da ich selbst während der japanfeindlichen Hysterie des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen bin, wundert es mich nicht, dass die Wilihiman-Dani beim Töten der Widaia-Dani eine so große Leidenschaft entwickelten, waren ihnen diese Einstellungen doch jahrzehntelang sowohl durch die Erziehung als auch durch umfangreiche Erfahrungen aus erster Hand eingeimpft worden. Rachedurst ist nicht schön, aber man kann auch nicht die Augen davor verschließen. Man muss ihn verstehen, zur Kenntnis nehmen und sich damit beschäftigen – und zwar nicht indem man wirklich Rache nimmt, sondern auf anderen Wegen.
Teil III Jung und Alt
Kapitel 5 Wie Kinder großgezogen werden
Kindererziehung im Vergleich
Auf einer meiner Reisen nach Neuguinea lernte ich Enu kennen, einen jungen Mann, dessen Lebensgeschichte mir bemerkenswert erschien. Er war in einer Region aufgewachsen, in der Kinder äußerst repressiv erzogen wurden und stark mit Pflichten und Schuldgefühlen belastet waren. Als Enu fünf Jahre alt war, beschloss er, dass er nun von einer solchen Lebensweise genug hatte. Er verließ seine Eltern und den größten Teil seiner Angehörigen und zog zu einem anderen Stamm in ein anderes Dorf – dort hatte er Verwandte, die bereit waren, sich um ihn zu kümmern. Jetzt befand sich Enu in einem Umfeld, das mit seiner lockeren Praxis der Kindererziehung das genaue Gegenteil zu seiner Herkunftsgesellschaft darstellte. Hier ging man davon aus, dass auch kleine Kinder für ihr Handeln selbst verantwortlich sind, und sie durften mehr oder weniger tun und lassen, was sie wollten. Wenn beispielsweise ein Baby neben einem Feuer spielte, griffen die Erwachsenen nicht ein. Deshalb hatten viele Erwachsene in dieser Gesellschaft die Narben von Brandwunden, ein Überbleibsel ihres Verhaltens als Säuglinge.
In der westlichen Industriegesellschaft unserer Tage würde man beide Formen der Kindererziehung entsetzt ablehnen. Das Laissez-faire von Enus Adoptivgesellschaft ist aber nach den Maßstäben der Gesellschaften von Jägern und Sammlern auf der ganzen Welt nichts Ungewöhnliches: Dort werden Kinder vielfach als selbständige Personen betrachtet, deren Wünsche man nicht einschränken sollte, und entsprechend dürfen sie auch mit gefährlichen Gegenständen spielen, beispielsweise mit scharfen Messern, heißen Töpfen oder mit dem Feuer.
Warum sollen wir uns für die Formen der Kindererziehung in traditionellen Gesellschaften von Jägern und Sammlern, Bauern oder Viehzüchtern interessieren? Eine Antwort ist akademischer Natur: Kinder machen ungefähr die Hälfte der Menschen in einer Gesellschaft aus. Ein Soziologe, der 50 Prozent der Mitglieder einer Gesellschaft nicht zur Kenntnis nimmt, kann nicht von sich behaupten, er habe diese Gesellschaft verstanden. Eine zweite akademische Antwort lautet: Jeder Aspekt im Leben eines Erwachsenen hat Anteile in der Entwicklung. Man kann die Praxis der Konfliktlösung und Eheschließung in einer Gesellschaft nicht verstehen, wenn man nicht weiß, wie Kinder im Hinblick auf diese Praxis
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