Vermächtnis
Blutsverwandten stellen. In einer ähnlichen Situation ist ein Fore-Mann, wenn er erfährt, dass sein Clan einen Angriff auf das Dorf plant, in das seine Schwester heiratsbedingt gezogen ist: Er kann sie warnen und dann von ihrem Ehemann eine Zahlung erwarten. Umgekehrt hört er vielleicht von seiner Schwester, dass das Dorf, in das sie eingeheiratet hat, sein Dorf angreifen will; dann warnt er seine Mitbewohner und erhält von ihnen Geschenke als Dank.
Vergesst Pearl Harbor
Kehren wir zum Schluss noch einmal zum Thema der Rache zurück: Für uns hat es den Anschein, als seien Kleingesellschaften ungewöhnlich stark damit beschäftigt, denn Rache wird von ihnen am häufigsten als Erklärung für Kriege genannt. Als Bürger moderner Staaten machen wir uns häufig nicht bewusst, wie stark Rachedurst sein kann. Unter den Gefühlen der Menschen steht er auf einer Stufe mit Liebe, Wut, Trauer und Angst, über die wir unaufhörlich reden. Moderne Staatsgesellschaften gestatten uns und fordern uns sogar auf, unserer Liebe, Wut, Trauer und Angst Ausdruck zu verleihen, nicht aber unserem Rachedurst. Von klein auf lernen wir, Rachegefühle seien etwas Primitives, dessen man sich schämen muss und über das wir hinauswachsen sollten. Solche Einstellungen impft uns unsere Gesellschaft ein, um uns von persönlichen Racheakten abzuhalten.
Es besteht kein Zweifel, dass wir unmöglich als Mitbürger desselben Staates friedlich nebeneinander leben könnten, wenn wir nicht dem Recht auf persönliche Rache abschwören und Bestrafungen dem Staat überlassen würden. Ansonsten würden auch wir unter den Bedingungen ständiger Kriegsführung leben, wie sie in den meisten nichtstaatlichen Gesellschaften herrschen. Aber selbst bei uns im Westen, die wir vom Staat Genugtuung erhalten, wenn uns Unrecht widerfahren ist, bleiben wegen des Mangels an persönlicher Wiedergutmachung quälende Gefühle zurück. Einer meiner Freunde, dessen Schwester von Räubern ermordet wurde, ist selbst heute, nach Jahrzehnten, noch wütend, obwohl der Staat die Täter verhaftete, verurteilte und ins Gefängnis brachte.
Als Staatsbürger leben wir also in einem Dilemma, das wir uns nicht eingestehen können. Der Anspruch des Staates, als einzige Instanz das Recht zur Bestrafung zu haben, ist für ein Leben in Frieden und Sicherheit unverzichtbar. Dieser Vorteil hat aber für uns einen hohen persönlichen Preis. Durch meine Gespräche mit Neuguineern habe ich begriffen, was wir aufgeben, indem wir die Justiz dem Staat überlassen. Um uns dazu zu veranlassen, hämmern Staatsgesellschaften und die mit ihnen verbundenen Religionen und moralischen Instanzen uns ständig ein, es sei etwas Schlechtes, nach Rache zu streben. Während also das Ausleben von Rachegefühlen verhindert werden muss, sollte es nicht nur erlaubt werden, diese Gefühle anzuerkennen, sondern man sollte uns sogar dazu ermutigen. Für die engen Angehörigen oder Freunde eines Menschen, der getötet wurde oder ernsthaftes Unrecht erlitten hat, und auch für die Opfer des Unrechts selbst sind solche Gefühle natürlich und stark. Viele Staatsregierungen unternehmen den Versuch, den Angehörigen von Verbrechensopfern eine gewisse persönliche Genugtuung zu verschaffen: Sie dürfen beim Prozess gegen den Angeklagten anwesend sein; in manchen Fällen ist es ihnen gestattet, sich an den Richter oder die Geschworenen zu wenden (Kapitel 2 ); sie können sich im System der wiederherstellenden Justiz (Kapitel 2 ) privat mit dem Verbrecher treffen, oder sie dürfen sogar bei der Hinrichtung des Mörders eines geliebten Menschen zusehen.
Wer nicht jahrelang mit Hochlandbewohnern aus Neuguinea gesprochen hat, fragt sich jetzt vielleicht immer noch: Wie ist es gekommen, dass diese Gesellschaften so offensichtlich anders sind als unsere und im Töten einen Genuss und eine Belohnung sehen? Was für verdrehte Ungeheuer sind das, dass sie so unverfroren erklären, es mache ihnen Spaß, Feinde umzubringen?
Ethnographische Untersuchungen an traditionellen Gesellschaften, die sich im Wesentlichen der Kontrolle staatlicher Regierungen entziehen, haben tatsächlich immer wieder gezeigt, dass Krieg, Mord und die Dämonisierung von Nachbarn nicht die Ausnahme, sondern die Norm waren und dass Mitglieder solcher Gesellschaften, die sich diese Normen zu eigen gemacht haben, häufig keine Ungeheuer sind, sondern ganz normale, glückliche, gut angepasste Menschen. In vielen Gesellschaften auf der Ebene der Staaten
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