Vermächtnis
besteht der Unterschied darin, dass man uns beibringt, uns sehr plötzlich und erst zu einem bestimmten Zeitpunkt (nämlich bei der Kriegserklärung) diese traditionellen Normen zu eigen zu machen und sie zu einem späteren Zeitpunkt (bei Abschluss eines Friedensvertrages) ebenso plötzlich wieder über Bord zu werfen. Dies führt zu verwirrenden Ergebnissen: Einen einmal übernommenen Hass wird man nicht so leicht wieder los. Viele meiner europäischen Freunde, die wie ich in den 1930 er Jahren geboren sind – Deutsche, Polen, Russen, Serben, Kroaten, Briten, Niederländer und Juden – haben von Geburt an gelernt, bestimmte andere Völker zu hassen oder zu fürchten; sie haben Erfahrungen gemacht, die ihnen dazu gute Gründe gaben und tragen diese Gefühle noch heute, mehr als 65 Jahre später, mit sich herum, obwohl meinen Freunden später beigebracht wurde, dass solche Gefühle jetzt nicht mehr als angemessen gelten und dass man sie am besten nicht zum Ausdruck bringt, es sei denn, man ist sich der Zustimmung seines Gegenübers sicher.
In den modernen Staatsgesellschaften des Westens lernen wir während des Heranwachsens einen allgemeingültigen Moralkodex, der in unseren Gotteshäusern jede Woche verkündet wird und in unseren Gesetzen niedergelegt ist. Das sechste Gebot lautet ganz einfach »Du sollst nicht töten«, und dabei wird nicht unterschieden, wie wir uns gegenüber Bürgern unseres eigenen Staates und anderer Staaten verhalten sollen. Nach mindestens 18 Jahren eines solchen moralischen Trainings bilden wir dann junge Erwachsene zu Soldaten aus.
Dass manche modernen Soldaten sich dann im Kampf nicht überwinden können, ihr Gewehr auf einen Feind zu richten und abzudrücken, ist nicht verwunderlich. Und wer getötet hat, leidet oft lange unter dem posttraumatischen Stresssyndrom (dies gilt beispielsweise für ein Drittel aller amerikanischen Soldaten, die im Irak oder in Afghanistan im Einsatz waren). Wenn sie nach Hause kommen, prahlen sie keineswegs mit dem Töten, sondern sie haben Albträume und sprechen, wenn überhaupt, nur mit anderen Veteranen darüber. (Welche Gefühle hätte wohl jemand, der nicht selbst Kriegsveteran ist, gegenüber einem amerikanischen Soldaten, der stolz und in allen persönlichen Einzelheiten erzählt, wie er einen Iraker oder auch einen Nazisoldaten im Zweiten Weltkrieg getötet hat?) Im Laufe meines Lebens habe ich Hunderte von Gesprächen mit amerikanischen und europäischen Veteranen geführt; manche davon waren enge Freunde oder Angehörige, aber genau wie viele meiner Freunde aus Neuguinea, so hat auch keiner von ihnen mir jemals erzählt, wie er getötet hat.
In den traditionellen Gesellschaften Neuguineas dagegen erleben die Menschen von frühester Kindheit an mit, wie Krieger zum Kämpfen weggehen und zurückkommen. Sie sehen die Leichen und Wunden der Angehörigen und Clanmitglieder, die vom Feind getötet wurden, hören Geschichten über das Töten und den Kampf als höchstes Ideal und erleben mit, wie erfolgreiche Krieger stolz über ihre Taten berichten und dafür gelobt werden. Man denke nur daran, wie die Jungen bei den Wilihiman-Dani aufgeregt ihre kleinen Speere in den sterbenden Asuk-Balek stießen, und wie sechsjährige Wilihiman-Jungen unter Aufsicht ihrer Väter mit Pfeilen auf sechsjährige Widaia-Jungen schossen (Kapitel 3 ). Am Ende hatten Neuguineer natürlich keine widerstreitenden Gefühle im Zusammenhang mit der Tötung des Feindes: Es gab für sie keine gegensätzliche Botschaft, die sie erst einmal verlernen mussten.
Bei genauerem Nachdenken sollte das alles – der glühende Hass auf die Feinde und der Rachedurst, den traditionelle Völker von ihren älteren Verwandten lernen – einem Amerikaner, der alt genug ist und sich noch an das japanische Bombardement unseres Marinestützpunktes in Pearl Habor im Jahr 1941 erinnert (das uns als heimtückischer Übergriff galt, weil ihm keine Kriegserklärung vorausgegangen war), nicht allzu fremd vorkommen. In den 1940 er Jahren wuchsen wir Amerikaner in einer Atmosphäre auf, die von der Dämonisierung der Japaner geprägt war, und tatsächlich hatten sie uns und anderen Völkern unsagbar grausige Dinge angetan (man denke nur an die Todesmärsche von Bataan und Sandakan, die Plünderung von Nanking und andere Ereignisse). Starker Hass auf die Japaner und Angst vor ihnen waren selbst unter amerikanischen Zivilisten weit verbreitet, auch wenn diese nie einen lebenden japanischen
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