Vermählung um Mitternacht
trug sie heute ihr Lieblingsgewand, eine perlgraue Pelisse mit dunkelrotem Samtbesatz. Ihr Hut gehörte zu denen, die Alec für sie ausgesucht hatte, mit breiter Krempe und aufgeputzt mit dunkelrot gefärbten Straußenfedern. Obwohl sie entschlossen war, sich von derartigem Tand nicht beeinflussen zu lassen, musste sie doch zugeben, dass es aufregend war, plötzlich nach der letzten Mode gekleidet zu sein.
Sie strich über den Wollstoff. »Um ehrlich zu sein, ich erkenne mich selbst kaum wieder. Wirklich schockierend, was Kleider alles ausrichten können.«
Er betrachtete sie erstaunt und brach dann in ehrlich amüsiertes Gelächter aus. »Sie sind eine ungewöhnliche Frau, Cousine Julia. Ich sehe schon, Alec hat mehr als nur ein Vermögen gewonnen.« Er ergriff ihre Hand und verbeugte sich. »Erlauben Sie, dass ich Sie um Vergebung bitte. Alec und ich konkurrieren seit unserer Geburt miteinander. Unserem Großvater hat das immer viel Spaß gemacht, und anscheinend ...«
Irgendwo auf der Straße gellte ein Schrei, als ein Junge in schmutzigen Lumpen schnurstracks auf einen Karren mit Kohl zurannte. Fluchend versuchte der Fahrer, der kleinen Gestalt auszuweichen, und zog den Karren im letzten Moment zur Seite. Die Pferde taten einen Satz, und der Wagen kippte um.
Chaos brach aus. Kohlköpfe kullerten über die schmale Straße, ein paar Straßenjungen jagten hinterdrein und schnappten sich so viel Kohl, wie sie zu fassen bekamen, bevor sie in den zahllosen Gässchen verschwanden. Der Fahrer schrie und versuchte seinen Waren nachzusetzen.
Vergessen war der barfüßige Gassenjunge, auf dessen Konto die ganze Aufregung ging und der nun rasch in der Menge untertauchen und sich aus dem Staub machen wollte. Ein brutal aussehender Mann, ein Kaminkehrer, stieß einen verblüfften Schrei aus und rannte ihm nach. Verzweifelt eilte der Junge zwischen zwei Karren hindurch und landete geradewegs in Julias ausgebreiteten Armen.
»Lassen Sie mich los! Verdammt, lassen Sie mich los. Der Pribble bringt mich um.«
»Immer langsam, Kind«, beruhigte Julia ihn. »Ich erlaube niemandem, dass er dir was tut.« Sie schlang beide Arme um die magere, drahtige Gestalt und hielt sie mit aller Macht fest.
Das Kind wand sich in ihrem Griff. »Jetzt lassen Sie mich doch endlich los! Wenn er mich erwischt, verdrischt er mich! «
Asche und Dreck beschmutzten ihre neue Pelisse, doch Julia packte nur noch fester zu. Ein übler Geruch stieg von der zitternden Gestalt auf, bei dem Julia fast schlecht wurde. Sie lockerte ihren Griff, nahm den Kopf des Kindes in beide Hände und drehte ihn zu sich herum. Das Gesicht war schmutzverkrustet und übersät mit blutigen Schrammen, was in Julia einen heiligen Zorn aufsteigen ließ.
»Niemand wird dir etwas tun«, sagte sie entschieden. »Sonst bekommt er es mit mir zu tun.«
Das schien den Jungen ein wenig zu beruhigen, denn er hörte auf, sich zu wehren. Allerdings musterte er sie misstrauisch. »Was wolln Sie schon machen? Sie sind doch bloß ein Mädel.«
»Die Wache rufen«, erwiderte Julia prompt. »Oder ihm mein Retikül über den Schädel ziehen.«
Skeptisch betrachte das Kind das feine Handtäschchen. Doch bevor er etwas entgegnen konnte, kam der brutal wirkende Mann herangestürmt.
»Da isser ja, der kleine Dreckskerl.« Die kleinen wieselflinken Augen huschten zwischen Julia und dem Jungen hin und her. Eingehend beäugte der Mann das elegante Kleid, bevor er widerwillig die schmierige Mütze abnahm. »Also dann, Missus, vielen Dank, dass Sie mir meinen Jungen wieder eingefangen haben. Ich sorg schon dafür, dass er Ihnen nicht mehr zur Last fällt.« Er wollte das Kind packen.
Der Junge zuckte vor der schmutzigen Hand zurück. »Nein. Ich geh nicht mit, du dreckiges Schwein!«
Nick bemerkte, dass der ,Drachen' nicht mit der Wimper zuckte. Sie strich dem Jungen nur über den dreckstarrenden Schädel und meinte aufmunternd: »Das muss jetzt aber nicht sein. Schlachten gewinnt man durch Taten, nicht durch Schimpfwörter.«
Völlig verwirrt blinzelte sie der Junge an. »Häh?«
Julia kicherte und warf Nick einen amüsierten Blick zu.
Dieser hielt den Atem an. Verschwunden war die ruhige, sittsame Frau, die mit jedem Atemzug Tugend und Ehre verströmte. Stattdessen stand eine leidenschaftliche, humorvolle und warmherzige Frau vor ihm, deren reizvolles Gesicht in einem entzückenden Lächeln aufstrahlte. Am meisten bezauberten ihn aber die lachenden grünen Augen, die man hinter der Brille
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