Vermählung um Mitternacht
sonst gar nicht wahrnahm. Nick hätte nicht überraschter sein können, wenn sie vor ihm auf die Knie gefallen wäre.
Seine Augen verengten sich. An der neuen Viscountess Hunterston war mehr dran, als er erwartet hätte. Viel mehr.
Julia strich das zerrissene Hemd des Knaben glatt. »Wie heißt du?«
Misstrauisch guckte der Junge sie an.
»Antworte der Dame«, befahl der Kaminkehrer finster. »Sonst prügel ich es aus dir raus.«
»Es besteht keinerlei Grund für rohe Gewalt. Er ist doch noch ein Kind.« Julia warf dem Mann einen scharfen Blick zu und wandte sich dann freundlich an den Knaben. »Willst du es mir nicht verraten? Dann erfinde ich eben einen für dich. Wie wär’s mit Tommy?«
Der kleine Junge musterte sie düster und zuckte dann mit den Schultern. »Mir wurscht. Ich hab keinen Namen. Zumindest kann ich mich an keinen erinnern.«
»Aber man hat dich doch irgendwie gerufen«, sagte Julia. Als das Kind nicht antwortete, wandte sie sich an den Kaminkehrer. »Wie heißt er?«
Der Kaminkehrer kratzte sich am Ohr. »Seine Ma hat mir bloß gesagt, dass er ein fleißiger Bursche ist. Aber damit hat sie versucht, ihn loszuwerden.«
»Der Pribble hat mich meistens Muck genannt«, verkündete der Junge. »Oderverd...«
»He«, rief der Kaminkehrer mit einem hastigen Blick auf Julia. »Die Dame interessiert doch nicht, wie ich dich nenne, du Lauser.«
Nick beobachtete die Begegnung mit wachsender Belustigung. Neben der strahlenden Julia sah das Kind wie eine dürre, hinfällige Kanalratte aus. Farblose Wimpern säumten seine kleinen eng stehenden Augen, er hatte scharfe Züge, eine Himmelfahrtsnase und Segelohren. Die Zähne waren zum Teil ganz schwarz, und Nick zweifelte nicht daran, dass sein Atem ebenso stank wie der Rest.
Und doch, wenn man Julia so anschaute, wie sie die Arme warmherzig um den Jungen schlang, hätte man meinen mögen, er wäre ein Prinz. Ihr schien gar nicht aufzufallen, wie hässlich und schmutzig er war. Sanft lächelte sie auf den Knaben hinab - wie eine Madonna auf einem Gemälde.
Etwas so Erstaunliches hatte Nick noch nie erlebt.
»Lieber Himmel! Was ist denn hier los?« Prächtig gewandet in orangefarbenen Samt, trat Lady Birlington aus der Leihbücherei und bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmenge, die sich inzwischen versammelt hatte.
Julia erhob sich, das Kind fest an der Hand haltend. »Lady Birlington, ich möchte Ihnen Muck vorstellen. Er begleitet uns nach Hause.«
»Was?« riefen der Kaminkehrer und Lady Birlington wie aus einem Munde.
»Das könnse nicht machen!« erklärte der Kaminkehrer zornig. »Er gehört mir! «
Lady Birlington starrte hochmütig auf das zerlumpte Kind hinunter. »Ich erlaube nicht, dass dieser schmutzige Junge in meine Kutsche steigt, Julia. Ephram ist sehr empfindlich, was Gerüche angeht.«
»Madam! Dieser Mann ist Kaminkehrer, und er missbraucht das Kind aufs Grausamste. Sehen Sie sich doch die Schrammen in seinem Gesicht an. Wir müssen ihn retten.«
Lady Birlington schürzte die Lippen. »Vermutlich ist er die Treppe hinuntergefallen oder so. Aber das ist egal. Der Junge kann uns nicht begleiten, und damit basta. Nun kommen Sie, wir haben viel zu tun.«
Es war offensichtlich, dass Lady Birlington sofortigen Gehorsam erwartete. Genauso offensichtlich war, dass Julia keinen Zoll nachgeben würde. Hocherfreut stellte Nick fest, dass sich die Menge noch vergrößert hatte. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er sich das letzte Mal derart köstlich amüsiert hatte.
»Julia, wir müssen los«, sagte Lady Birlington scharf. »Der Junge geht uns nichts an.«
Lady Birlingtons Kritik ermunterte den Kaminkehrer zu weiterer Dreistigkeit. Mit beiden Händen packte er Mucks knochigen Arm und zog daran. »Aye, hörn Sie auf die alte Schachtel. Muck geht Sie nix an.«
Lady Birlington stieß den Stock auf den Gehsteig und nagelte den unglückseligen Kaminkehrer mit einem eisigen Blick fest. »Wie haben Sie mich eben genannt?«
Nick verbiss sich ein Lachen, als er sah, wie rasch der Kaminkehrer den Jungen losließ. Lady Birlingtons durchdringender Blick hatte schon Kronprinzen unter ihrem Korsett ins Schwitzen gebracht. Auf den Kaminkehrer schien er dieselbe erstaunliche Wirkung zu haben.
» V...verzeihung, Missus, aber ich hab für den Lauser ’nen Fünfer hingelegt, und ...« Der Gedanke an seine fünf Pfund schien dem Mann neuen Mut einzuflößen, denn er straffte die Schultern. »Ich geh nicht ohne ihn.«
Lady Birlingtons Gesicht
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