Vermiss mein nicht
verlorenen Sachen hinkommen.«
Er hakte sofort nach. »Glaubst du, Jenny-May ist auch dort? Fühlst du dich besser, wenn du dir das vorstellst?«
»O Gott«, stöhnte ich. »Wenn jemand sie umgebracht hat, Mr. Burton, dann hat jemand sie umgebracht. Ich versuche nicht, mir eine Phantasiewelt zu erschaffen, damit ich besser damit umgehen kann.«
Er bemühte sich sehr, ein neutrales Gesicht zu machen.
»Aber ob sie nun noch lebt oder nicht – warum hat die Polizei sie nicht gefunden? Schließlich gibt es in unserem County nicht unendlich viele Verstecke.«
»Würdest du dich besser fühlen, wenn du akzeptieren könntest, dass es manchmal einfach ungelöste Rätsel gibt?«
»Sie akzeptieren das doch auch nicht, warum sollte ich es dann tun?«
»Was bringt dich auf die Idee, dass ich das nicht akzeptiere?«
»Sie sind Therapeut. Sie glauben, dass jede Aktion eine Reaktion hervorruft und jede Reaktion wieder eine Aktion. Alles, was ich jetzt tue, tue ich aufgrund dessen, was vorher passiert ist, wegen etwas, was jemand gesagt oder getan hat. Sie glauben, dass es auf alles eine Antwort oder eine Lösung gibt.«
»Das stimmt nicht unbedingt. Man kann nicht alles in Ordnung bringen.«
»Können Sie mich in Ordnung bringen?«
»Du bist nicht kaputt.«
»Ist das Ihre medizinische Diagnose?«
»Ich bin kein Arzt.«
»Sind Sie etwa kein ›Seelendoktor‹?« Ich deutete die Anführungszeichen mit erhobenen Fingern an und verdrehte die Augen.
Schweigen.
»Wie fühlst du dich, wenn du etwas suchst und suchst und es trotzdem nicht findest?«
Mir war klar, dass er so ein seltsames Gespräch noch nie geführt hatte.
»Haben Sie eine Freundin, Mr. Burton?«
Er runzelte die Stirn. »Sandy, ich denke nicht, dass das irgendeine Rolle spielt.« Als ich nicht darauf reagierte, antwortete er seufzend: »Nein, ich habe keine Freundin.«
»Hätten Sie gern eine?«
Er dachte einen Moment nach. »Willst du damit sagen, dass das Gefühl, wenn man eine Socke sucht, das gleiche ist, wie wenn man nach Liebe sucht?« Zwar strengte er sich sichtlich an, die Frage so zu formulieren, dass ich mir nicht dumm vorkommen musste, aber er scheiterte kläglich.
Ich verdrehte wieder die Augen. Aus irgendeinem Grund brachte er mich des Öfteren dazu. »Nein, es ist das Gefühl, dass man weiß, es fehlt einem etwas im Leben, aber man findet es nicht, ganz gleich, wie intensiv man auch danach sucht.«
Mit einem unbehaglichen Räuspern nahm er Stift und Papier zur Hand und tat so, als würde er sich etwas notieren.
Zeit zum Kritzeln also. »Ich langweile Sie wohl, was?«
Er musste lachen, und die Spannung zwischen uns verflog wieder.
Trotzdem versuchte ich noch einmal zu erklären, was ich meinte. »Vielleicht ist es leichter, wenn ich sage, etwas zu verlieren ist so, als würde man sich plötzlich nicht mehr an den Text seines Lieblingssongs erinnern, den man immer auswendig konnte. Oder als würde man den Namen eines Menschen vergessen, den man sehr gut kennt. Oder den Namen einer Band, die einen Superhit hatte. Es ist frustrierend und geht einem nicht mehr aus dem Kopf, denn man weiß ja, dass es eine Antwort gibt. Aber niemand kann sie einem geben. So was lässt mir keine Ruhe, bis ich irgendwann die Lösung finde.«
»Das versteh ich«, meinte er leise.
»Na, dann multiplizieren Sie dieses Gefühl nochmal mit hundert.«
»Du bist ganz schön erwachsen für dein Alter, Sandy.«
»Das ist komisch, denn ich hab gehofft, in Ihrem würden sie viel mehr wissen.«
Da fing er an zu lachen und hörte nicht mehr auf, bis unsere gemeinsame Zeit vorbei war.
Beim Abendessen erkundigte sich mein Vater, wie es bei Mr. Burton gelaufen war.
»Er konnte meine Fragen auch nicht beantworten«, antwortete ich kauend.
Dad sah aus, als würde ihm gleich das Herz brechen. »Dann möchtest du wahrscheinlich nicht mehr hingehen.«
»Doch!«, sagte ich schnell, und meine Mum versuchte ihr erleichtertes Lächeln zu verbergen, indem sie schnell einen Schluck Wasser trank.
Dad sah fragend zwischen ihr und mir hin und her.
»Er hat hübsche Augen«, verkündete ich, als würde das irgendetwas erklären, während ich mir eine Gabel Kartoffeln in den Mund stopfte.
Dad hob die Augenbrauen und sah zu meiner Mum, die von einem Ohr zum andern grinste und rote Bäckchen hatte. »Das stimmt, Harold. Mr. Burton hat sehr hübsche Augen.«
»Na dann!«, rief er und warf hilflos die Arme in die Luft. »Wenn der Mann hübsche Augen hat, was kann ich da
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