Vermiss mein nicht
deine Eltern dich zu mir geschickt haben?«
»Weil ich Antworten brauche.«
»Worauf zum Beispiel?«
Ich dachte kurz nach. »Wo ist der Tesafilm, den wir heute Morgen immer noch nicht gefunden haben? Wo ist Jenny-May Butler? Wo sind die fünf Teenager, die 1966 auf einem Campingtrip verschwunden sind? Warum geht immer wieder eine einzelne Socke von mir in der Waschmaschine verloren und taucht nicht wieder auf?«
»Du glaubst also, ich kann dir sagen, wo all diese Sachen sind?«
»Vielleicht nicht ganz genau, Mr. Burton, aber ein allgemeiner Hinweis wäre schon schön.«
Er lächelte mich an. »Dann lass mich doch eine Weile die Fragen stellen, vielleicht finden wir mit Hilfe deiner Antworten die Lösungen, die du suchst.«
»Na gut, wenn Sie meinen, das funktioniert.« Sonderbarer Typ.
»Warum hast du das Gefühl, du musst wissen, wo die Sachen sind?«
»Das ist einfach so.«
»Warum?«
»Warum haben Sie das Gefühl, Sie müssen mir Fragen stellen?«
Mr. Burton blinzelte und schwieg. Länger, als er eigentlich vorgehabt hatte, das sah ich genau. Dann antwortete er: »Das ist mein Job, dafür werde ich bezahlt.«
»Dafür werden Sie bezahlt«, wiederholte ich und verdrehte die Augen. »Mr. Burton, Sie könnten auch meinen Samstags-Job machen und sich fürs Klopapierrollenstapeln bezahlen lassen, aber Sie haben, soweit ich weiß, aus freien Stücken rund zehn Millionen Jahre studiert, um sich die ganzen Urkunden an die Wand hängen zu können« – ich warf einen vielsagenden Blick auf seine Zeugnisse und Zusatzqualifikationen –, »also würde ich doch mal behaupten, Sie haben sich für das Studium und die ganzen Prüfungen nicht nur zum Spaß angestrengt und stellen Ihre Fragen auch nicht nur deshalb, weil Sie dafür bezahlt werden.«
Er lächelte schwach und betrachtete mich nachdenklich. Ich glaube, er wusste nichts zu sagen. Also machten wir fünf Minuten Pause.
Als er wieder ins Zimmer kam, machte er sich gar nicht erst die Mühe, Stift und Papier zur Hand zu nehmen. Stattdessen stützte er die Ellbogen auf die Knie und beugte sich zu mir.
»Ich unterhalte mich gern mit Leuten, das war schon immer so. Wenn man über sich selbst redet, lernt man Dinge, die man vorher nicht wusste. Es ist eine Art Selbstheilung. Ich stelle Fragen, weil ich den Leuten gerne helfe.«
»Ich auch.«
»Und du hast das Gefühl, wenn du Fragen über Jenny-May stellst, hilfst du ihr oder vielleicht ihren Eltern?«, hakte er nach und versuchte, sich seine Verwirrung möglichst wenig anmerken zu lassen.
»Nein, ich helfe mir selbst.«
»Wie hilft dir das denn? Frustriert es dich nicht noch mehr, wenn du keine Antwort bekommst?«
»Manchmal finde ich ja auch etwas, Mr. Burton. Ich finde Sachen, die gerade erst verlegt worden sind.«
»Ist nicht alles verlegt, was man verliert?«
»Wenn man etwas verlegt, dann ist es vorübergehend verloren, weil man vergessen hat, wo man es hingetan hat. Aber ich weiß immer, wo ich Sachen hintue. Es geht mir um die Dinge, die ich
nicht
verlegt habe, die will ich finden. Die Dinge, die Beine kriegen und von alleine weglaufen – die ärgern mich.«
»Glaubst du denn, es ist möglich, dass jemand diese Dinge an einen anderen Platz räumt?«
»Wer denn?«
»Das frage ich dich.«
»Na ja, im Fall des Tesafilms lautet die Antwort eindeutig nein. Im Fall der Socken ebenfalls – es sei denn, jemand holt zu seinem Privatvergnügen meine Socken aus der Waschmaschine. Mr. Burton, meine Eltern wollen mir helfen. Deshalb glaube ich wirklich nicht, dass sie einfach etwas wegräumen und es dann vergessen. Wenn überhaupt, dann passen sie mir zuliebe besser auf, wo sie etwas hintun.«
»Was glaubst du denn dann? Was meinst du selbst, wo all die verlorenen Sachen sind?«
»Mr. Burton, wenn ich dazu eine Meinung hätte, wäre ich doch nicht hier.«
»Dann hast du also keine Ahnung? Nicht mal in deinen wildesten Träumen, nicht mal, wenn du total frustriert bist, weil du bis in die Puppen gesucht und wieder mal nichts gefunden hast – nicht mal dann hast du eine Idee, eine Hypothese, wo die verlorenen Sachen sein könnten?«
Offensichtlich hatte er von meinen Eltern mehr über mich erfahren, als ich erwartet hatte, aber ich saß schon wieder in der Zwickmühle. Denn auch jetzt würde mich eine ehrliche Antwort in seinen Augen garantiert nicht verliebenswert erscheinen lassen. Trotzdem holte ich tief Luft und sagte: »In solchen Fällen denke ich, dass sie dort sind, wo alle
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