Vermiss mein nicht
Stift?«
»Damit ich kritzeln kann, falls ich mich langweile.« Er drückte auf den Aufnahmeknopf und sagte Datum und Uhrzeit an.
»Ich hab das Gefühl, ich bin beim Verhör auf dem Polizeirevier.«
»Ist dir so was schon mal passiert?«
Ich nickte. »Ja, als Jenny-May Butler verschwunden ist, sind wir alle zur Polizei gegangen, um zu erzählen, was wir wussten.« Wie schnell wir auf das Thema Jenny-May Butler gekommen waren. Sie wäre bestimmt begeistert gewesen über so viel Aufmerksamkeit.
»Aha.« Er nickte. »Jenny-May war deine Freundin, richtig?«
Einen Moment überlegte ich, sah mir die Anti-Mobbing-Plakate an und fragte mich, was ich darauf antworten sollte. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass dieser tolle Mann mich unsensibel fand, wenn ich nein sagte. Aber Jenny-May war nicht meine Freundin. Sie hasste mich. Aber jetzt war sie verschwunden, und ich sollte wahrscheinlich nicht schlecht über sie sprechen – schließlich hielten sie nun alle für einen Engel. Mr. Burton deutete mein Schweigen als Betroffenheit, was mir peinlich war, und er stellte die nächste Frage so sanft und vorsichtig, dass ich fast laut losgelacht hätte.
»Vermisst du sie?«
Auch diese Frage ließ ich mir erst einmal durch den Kopf gehen. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob er es vielleicht vermissen würde, jeden Tag eine Ohrfeige zu kriegen. Aber wieder hatte ich Angst, er könnte mich herzlos finden, wenn ich ihm wahrheitsgemäß antwortete. Dann würde er sich niemals in mich verlieben und mich aus Leitrim herausholen.
Er beugte sich vor. Ach, seine Augen waren so wunderschön blau!
»Deine Mum und dein Dad haben mir gesagt, du willst Jenny-May unbedingt wiederfinden, stimmt das?«
Hoppla. So schnell entstehen Missverständnisse. Ich rollte mit den Augen. Okay, Schluss mit dem Quatsch. »Mr. Burton, ich möchte nicht gemein oder gefühllos wirken, denn Jenny-May ist nicht mehr da, und alle sind traurig, aber …« Ich ließ den Satz unvollendet.
»Mach ruhig weiter«, ermunterte er mich, und ich wäre ihm am liebsten auf den Schoß gehopst und hätte ihn abgeknutscht.
»Na ja, ich und Jenny-May waren nie Freundinnen. Sie hat mich gehasst. Natürlich vermisse ich sie irgendwie. Ich merke, dass sie nicht mehr da ist, aber ich möchte nicht, dass sie wiederkommt. Ich würde nur furchtbar gern wissen, wo sie ist.«
Mr. Burton zog die Augenbrauen hoch.
»Also, ich weiß, Sie dachten wahrscheinlich, ich würde mich deshalb so aufregen, wenn ich was verloren habe – weil ich mit Jenny-May befreundet war und weil sie jetzt verschwunden ist. Als könnte ich sie dadurch zurückholen, dass ich meine einzelnen verlorenen Socken wiederfinde oder so.«
Ihm fiel die Kinnlade herunter.
»Na ja, das ist sicher eine ganz vernünftige Überlegung, Mr. Burton, aber so kompliziert bin ich nicht. Es ärgert mich bloß, dass ich nicht weiß, wo die Dinge sind, die man nicht wiederfindet. Zum Beispiel unser Tesafilm. Gestern Abend wollte Mum ein Geschenk für Tante Deirdre einpacken, die demnächst Geburtstag hat, und konnte partout den Tesafilm nicht finden. Also, bei uns liegt die Rolle immer in der Schublade unter dem Besteck. Wir verstauen sie nie woanders, denn meine Eltern wissen ja, wie ich reagiere, wenn was nicht da ist, deshalb achten sie genau darauf, dass alles seinen Platz hat. Ehrlich, unser Haus ist ziemlich ordentlich, bei uns gehen nicht dauernd irgendwelche Sachen flöten. Jedenfalls habe ich den Tesafilm am Samstag benutzt, als ich meine Hausaufgaben in Kunst gemacht habe, für die ich heute übrigens eine beschissene Drei gekriegt habe, obwohl Cynthia Tinsletown eine Eins eingesackt hat, für ein Bild, das aussieht wie eine zerquetschte Fliege auf der Windschutzscheibe. Und so was gilt dann als ›richtige Kunst‹! Aber ich schwöre, ich hab den Tesafilm in die Schublade zurückgelegt. Dad hat ihn nicht benutzt, Mum hat ihn nicht benutzt, und ich bin beinahe hundertprozentig sicher, dass niemand bei uns eingebrochen ist, um den Tesafilm zu klauen. Den ganzen Abend hab ich danach gesucht, aber ich konnte ihn nicht finden. Also, wo ist er jetzt?«
Schweigend lehnte Mr. Burton sich in seinem Sessel zurück.
»Verstehe ich das richtig?«, sagte er nachdenklich. »Du vermisst Jenny-May Butler nicht wirklich?«
Auf einmal mussten wir beide lachen, und zum ersten Mal fühlte ich mich nicht schlecht, weil mir das Engelchen nicht fehlte.
Schließlich wurde Mr. Burton wieder ernst. »Was denkst du, warum
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