Vermiss mein nicht
meinte, ohne Helena zu verletzen. »Er ist Zimmermann«, sagte ich schließlich.
»Der Dorfrat besteht aus lauter ganz normalen Leuten mit ganz normalen Jobs. Es geht ja nur darum, vernünftige Entscheidungen zu treffen, wenn welche anstehen.«
Aber ich konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ihr alle hier nur im Sandkasten spielt, weißt du. Es fällt mir schwer, das ernst zu nehmen.« Ich lachte. »Wir sind hier mitten im Niemandsland, und ihr habt Dorfräte und Gerichte und wer weiß, was sonst noch alles.«
»Das findest du komisch?«
»Ja! Egal, wo ich hinsehe, verkleidet man sich mit den Sachen anderer Leute. Wie kann man an einem Ort wie hier – wo immer das genau sein mag – überhaupt irgendeine Form von Ordnung oder Regeln durchsetzen? Da fehlt doch jede Logik, jedes Gespür für praktische Anwendbarkeit.«
Zuerst machte Helena einen etwas beleidigten Eindruck, aber dann meinte sie mitfühlend – was mir überhaupt nicht passte: »Das hier ist das Leben, Sandy, das wirkliche Leben. Früher oder später wirst du auch merken, dass niemand hier irgendwelche Spielchen spielt. Wir leben alle unser Leben und versuchen, es so gut wie möglich zu machen, genau wie jeder Mensch in jedem anderen Land, auf jeder anderen Welt.« Inzwischen hatten wir uns Joan genähert. »Wie bist du mit Sandys Liste zurechtgekommen?«, fragte Helena sie und beendete damit unser Gespräch.
Überrascht blickte Joan auf. »Oh, hallo, ich hab euch beide gar nicht kommen hören.« Dann bemerkte sie mein Outfit. »Oh, Sie sehen ja … ganz anders aus.«
»Haben Sie denn mit allen auf der Liste Kontakt aufgenommen?«, fragte ich, ohne darauf einzugehen.
»Leider nicht mit allen«, antwortete sie mit einem Blick auf die Liste.
»Lassen Sie mich mal sehen.« Auf einmal spürte ich einen Adrenalinstoß, nahm Joan den Notizblock ab und überflog die Namen, die ich ihr gegeben hatte. Weniger als die Hälfte waren abgehakt. Joan redete unermüdlich weiter. Mein Herz klopfte wild, wenn mir ein bestimmter Name auffiel und mir wieder klar wurde, dass ich diesen Menschen gleich begegnen würde.
»Wie gesagt«, meinte Joan unterdessen etwas ärgerlich, weil ich mich eingemischt hatte, »Terence von der Registratur war keine große Hilfe, weil er ohne offiziellen Antrag von einem Mitglied des Dorfrats keine Informationen rausgeben kann.« Argwöhnisch musterte sie Helena. »Deshalb konnte ich bloß im Dorf rumfragen. Aber Sie werden sich sicher freuen, Sandy: Die irische Gemeinschaft hier ist so klein, dass sowieso jeder jeden kennt.«
»Mach es nicht so spannend«, drängte Helena.
»Na ja, ich hab eine ganze Menge Leute kontaktiert, insgesamt zwölf«, fuhr sie fort. »Acht haben Interesse am Vorsprechen gezeigt, die anderen vier meinten, sie würden sich gern an der Produktion beteiligen, aber nicht auf der Bühne. Ein paar hab ich nicht erreicht, zum Beispiel, lasst mich nachsehen …« Sie setzte die Brille auf.
»Jenny-May Butler«, vollendete ich den Satz für sie, und mein Herz wurde schwer.
Helena sah mich an. Offensichtlich erkannte sie den Namen, wahrscheinlich weil ich ihn bei meinem Zusammenbruch erwähnt hatte.
»Bobby Stanley«, las ich weiter vor, und meine Hoffnung sank, »James Moore, Clare Steenson …« Die Liste ging weiter.
»Na ja, dass sie nicht hier sind, heißt ja nicht, dass sie nicht im nächsten Dorf sein können«, versuchte Joan mich aufzubauen.
»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit?«, fragte ich, schon ein wenig hoffnungsvoller.
»Ich will dich nicht anlügen, Sandy«, antwortete Helena. »Der Großteil der Iren wohnt hier bei uns. Pro Jahr treffen fünf bis fünfzehn Leute ein, und weil wir so wenige sind, bleiben wir zusammen.«
»Aber dann müsste Jenny-May Butler doch auch hier sein«, hakte ich nach.
»Was ist mit den anderen auf der Liste?«, fragte Joan leise, ohne auf meine Bemerkung einzugehen.
Hastig ging ich die angekreuzten Namen noch einmal durch. Clare und Peter, Stephanie und Simon … Mit ihren Familien hatte ich bis tief in die Nacht dagesessen, Fotoalben durchgeblättert und Tränen gestillt, ich hatte versprochen, Kinder, Brüder, Schwestern und Freunde wiederzufinden. Wenn sie nicht hier waren, bedeutete das, dass man mit dem Schlimmsten rechnen musste.
»Aber Jenny-May«, begann ich und rief mir wieder einmal die Einzelheiten ihres Verschwindens ins Gedächtnis. »Sie war eines Tages einfach weg, ohne dass jemand irgendwas
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