Vermiss mein nicht
weiter. Wie viel Zeit haben wir noch? Wir sind unterwegs zum Vorsprechen«, erklärte sie Joseph, der mit ernstem Gesicht nickte und seine Axt wieder aufhob.
Ich sah auf mein Handgelenk hinunter. Meine Uhr war weg!
»O verdammt!«, brummte ich, ließ die Reisetasche fallen und suchte den Boden um meine Füße ab.
»Was ist los?« Auch Helena und Joseph blieben stehen und sahen sich um.
»Meine Uhr ist mir mal wieder vom Handgelenk gerutscht«, knurrte ich, immer noch mit Suchen beschäftigt.
»Mal wieder?«
»Der Verschluss ist hinüber, er geht manchmal einfach auf, und dann ist die Uhr weg.« Inzwischen war ich auf die Knie gegangen, um besser suchen zu können.
»Na, vor einer Minute hattest du sie noch, also kann sie nicht weit weg sein. Heb mal die Tasche hoch«, sagte Helena ruhig.
Ich sah unter der Reisetasche nach.
»Komisch.« Helena kam zu mir zurück und bückte sich ebenfalls.
»Bist du weggegangen, als ich im Wald war?«
»Nein, ich hab direkt hier gewartet, mit Joseph.« Ich ging auf die Knie und krabbelte auf dem staubigen Weg herum. »Wenn die Uhr weg ist, fang ich an zu heulen«, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu den beiden anderen.
Zu dritt suchten wir die Stelle ab, von der ich mich seit fünf Minuten nicht entfernt hatte. Die Uhr konnte nirgendwo anders sein! Ich schüttelte meine Ärmel aus, leerte meine Taschen und inspizierte das Gepäckstück, ob die Uhr daran hängen geblieben war. Nichts, keine Spur, nirgends.
»Wo in aller Welt ist sie geblieben?«, murmelte Helena, während sie den Boden inspizierte.
Nur Joseph, der kaum ein Wort gesprochen hatte, seit er zu uns gestoßen war, rührte sich nicht vom Fleck. Seine Augen, die jetzt so schwarz waren wie Kohlen und alles Licht absorbiert zu haben schienen, ruhten die ganze Zeit auf mir.
Er beobachtete mich, unablässig.
Dreiundzwanzig
Die nächste halbe Stunde suchte ich den Weg nach meiner Uhr ab. Zwanghaft wie üblich verfolgte ich meine Schritte mehrmals zurück, durchkämmte das lange Gras am Wegrand und grub mit den Händen tief in den Waldboden. Die Uhr war nirgends zu finden, aber irgendwie war das Suchen auch tröstlich, denn endlich fühlte ich mich wieder wie ich selbst. Solange ich suchte, vergaß ich völlig, wo ich mich befand und was mit mir passiert war. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf – das Verlorene wiederzufinden. Als Zehnjährige hatte ich meine Socken gesucht, als wären sie die seltensten Diamanten der Welt, aber jetzt ging es um etwas viel Wertvolleres – meine Uhr.
Besorgt sahen Joseph und Helena zu, wie ich Gras und Erdreich aushob, auf der verzweifelten Suche nach dem kostbaren Juwel, das seit dreizehn Jahren mein Handgelenk schmückte. Dass die Uhr nie lange an Ort und Stelle blieb, passte gut zu meiner wechselvollen Beziehung mit dem Menschen, der sie mir geschenkt hatte. Aber jedes Mal, wenn sie sich losmachte, sehnte ich mich sofort nach ihr und wollte sie wiederhaben. Auch das war symptomatisch für die Beziehung.
Helena und Joseph überspielten meinen Suchanfall nicht, wie meine Eltern es immer getan hatten. Wahrscheinlich sind sie auch deswegen beunruhigt, weil sie ja behauptet haben, dass hier nichts verloren gehen kann, dachte der zwanghafte Teil in mir. Bestimmt hatten sie Schwierigkeiten, zu verdauen, was sich da vor ihren Augen abspielte. Meine vernünftige Seite aber sagte mir, dass sie sich vornehmlich um mich Sorgen machen, wie ich da auf allen vieren völlig verdreckt und aufgelöst im Staub kauerte.
»Ich glaube, du solltest jetzt aufhören zu suchen«, sagte Helena schließlich in leicht amüsiertem Ton. »In der Gemeinschaftshalle warten bestimmt schon eine Menge Leute auf dich, ganz zu schweigen davon, dass du eine Dusche nötig hast und dich umziehen musst.«
»Sollen die Leute ruhig warten«, entgegnete ich, während ich weiter mit den Händen im Schlamm wühlte.
»Sie haben inzwischen lange genug gewartet«, widersprach Helena entschieden. »Und du offen gesagt auch. Also hör jetzt bitte auf mit deinen Ausweichmanövern, die bringen sowieso nichts. Gehen wir.«
Ich hielt inne. Da war das Wort, das ich von Gregory so oft gehört hatte.
Ausweichmanöver. Hör auf, ständig der Realität auszuweichen, Sandy
. War es das, was ich da tat? Warum sollte es ein Ausweichmanöver sein, wenn ich mich voll und ganz auf etwas konzentrierte? Das hatte mir noch nie richtig eingeleuchtet. Wenn man ausweichen oder etwas gezielt vermeiden wollte, drehte man sich um und
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