Vermiss mein nicht
Mund hielt, wenn Judith in der Nähe war. Als Jack geboren wurde, hatte sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf ihn konzentriert – ein echtes Baby, das sie bemuttern und manchmal erdrücken konnte. So war es bis heute geblieben. Wenn er einen Rat brauchte, wandte er sich an Judith, und sie fand immer Zeit ihm zuzuhören, wenn sie gerade kein Kind zur Schule bringen, wickeln oder stillen musste.
Als er vor ihrem Reihenhäuschen hielt, ging die Haustür auf, ein Geschrei wie von tausend Furien erhob sich, und ihm platzte fast das Trommelfell.
»Däääää-dii!«, kreischte die Furie.
Kurz darauf erschien der Vater der Furie an der Tür, in einem eierschalenfarbenen Hemd und einer sehr locker gebundenen Krawatte mit schiefem Knoten. Mit der einen Hand hielt er krampfhaft einen Kaffeebecher fest, aus dem er hastig immer wieder einen großen Schluck hinunterkippte. Mit der anderen Hand umklammerte er eine ramponierte Aktenmappe, und an seinem Bein hing im Würgegriff die Furie, hellblond, im Power-Ranger-Pyjama und mit Kermit-Hausschuhen an den Füßen.
»Nich geeeeehn!!!«, jammerte sie, Beine und Arme um sein Bein geschlungen, als ginge es um Leben und Tod.
»Ich muss los, Süße, Daddy muss arbeiten.« »Neiiiiiin!«
In diesem Moment fuhr ein langer Arm aus der Tür und streckte eine Scheibe Toast in Richtung des umklammerten Mannes. »Iss, Willie!«, erklang Judiths Stimme, die gleichzeitig noch das Geheul aus einer zweiten Quelle übertönen musste.
Willie biss ein Stück von dem Brot ab, schüttete noch einen Schluck Kaffee hinterher und befreite sanft sein Bein. Sein Kopf verschwand kurz in der Tür, um die Eigentümerin des Arms zu küssen, dann rief Willie: »Tschüss, Kinder!«, und die Tür wurde zugeknallt. Zwar hörte man das Geschrei immer noch, aber Willie lächelte tapfer weiter. Es war grade mal acht Uhr morgens, und er hatte wahrscheinlich bereits ein bis zwei Stunden pure Folter hinter sich. Und lächelte trotzdem.
»Hallo, Jack!«, rief er, und sein rundes Gesicht strahlte noch mehr.
»Guten Morgen, Willie!«, antwortete Jack, dem gleich auffiel, dass die Knöpfe über Willies Bauch ziemlich spannten, ein Kaffeefleck seine Hemdentasche zierte und ein Klecks Zahncreme auf seiner Paisley-Krawatte gelandet war.
»Entschuldige, hab keine Zeit zum Plaudern, bin auf der Flucht«, lachte er, klopfte Jack auf die Schulter, quetschte sich in sein Auto und rauschte mit knallendem Auspuff von dannen. Als Jack sich umblickte, sah er, dass sich vor jeder Haustür in der Straße ungefähr die gleiche Szene abspielte.
Zögernd klopfte er an die Tür, durch die Willie gerade entflohen war. Hoffentlich verschlang ihn das Irrenhaus nicht gleich in einem großen Happs. Die Tür ging auf wie von Geisterhand, und Jack starrte ins Leere. Erst als er den Blick senkte, entdeckte er das kleine Wesen, das ihm geöffnet hatte. Das Fläschchen zwischen die Lippen geklemmt, nackt bis auf eine dicke Windel, rannte der einjährige Nathan den Korridor hinunter, und Jack folgte ihm. Die vierjährige Katie, die noch vor wenigen Augenblicken das Bein ihres Vaters malträtiert hatte, saß im Schneidersitz in etwa dreißig Zentimetern Entfernung vor dem Fernseher, neben sich eine Schale mit Müsli, von dem die Hälfte bereits auf dem ohnehin fleckigen Teppichboden gelandet war, total fasziniert von den tanzenden Käfern, die ein Lied über den Regenwald trällerten.
»Nathan«, rief Judith freundlich aus der Küche, »komm bitte zurück, du brauchst eine frische Windel!«
Mit ihrer Engelsgeduld war Judith der ruhende Pol im brodelnden Chaos. Überall lagen Spielsachen, Gemälde und Kritzeleien waren teils an die Wand gepinnt, teils direkt auf der Tapete verwirklicht worden. Körbe mit schmutziger Wäsche waren ebenso allgegenwärtig wie solche mit sauberen Sachen, die Wände waren gesäumt mit Wäscheständern, an denen frisch gewaschene Klamotten trockneten. Der Fernseher plärrte, ein Baby heulte, irgendwo trommelte jemand auf Töpfe und Pfannen. Die Szenerie erinnerte an einen menschlichen Zoo: Drei Mädchen und zwei Jungen im Alter von zehn, acht, vier Jahren beziehungsweise vierzehn und vier Monaten tobten herum und lechzten nach Aufmerksamkeit, während Judith in einem fleckigen Morgenmantel und mit wilden, ungewaschenen Haaren am Küchentisch saß und mitten in diesem Tohuwabohu das Inbild von Ruhe und Gelassenheit abgab.
»Hallo, Jack!«, rief sie überrascht. »Wie bist du denn reingekommen?«
»Dein Türsteher hat
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