Vermiss mein nicht
Tagen schon so oft gesucht hatte, ging er in den Wald hinein, denn bisher hatte er, unerfahren, wie er war, nur nach Fußspuren Ausschau gehalten, als könnte ihm das irgendwie helfen. Diesmal ging er weiter, freute sich, wenn Tiere aus dem Lichtkegel flohen, und leuchtete in die Baumwipfel, bis das Licht zum Himmel aufstieg.
Plötzlich entdeckte er einen schmalen Pfad, der vom Hauptweg nach links abzweigte, und blieb stehen. Diese Gabelung hatte er bisher noch nie bemerkt! Vorsichtig leuchtete er hinein – noch mehr Bäume, dann nur noch Finsternis. Schaudernd wollte er sich abwenden – besser, er kam bei Tageslicht hierher zurück. Aber als er den Lichtkegel in die andere Richtung schwenkte, erhaschte er aus dem Augenwinkel ein metallisches Glitzern. Hastig lenkte er den Schein der Lampe zu der Stelle zurück. Hoffentlich war das, was immer er da gesehen haben mochte, nicht weg! Aber nein – sein Blick fiel auf eine silberne Armbanduhr, die im langen Gras links des Weges lag. Mit klopfendem Herzen bückte er sich nach ihr, denn er erinnerte sich plötzlich daran, wie Sandy ein paar Tage früher an der Tankstelle ihre Uhr vom Boden aufgehoben hatte.
Neunundzwanzig
»Hallo. Ich hoffe, ich habe die Nummer von Mary Stanley gewählt«, sagte Jack dem Anrufbeantworter. »Mein Name ist Jack Ruttle. Sie kennen mich nicht, aber ich versuche, Kontakt mit Sandy Shortt aufzunehmen, mit der Sie vor kurzem gesprochen haben. Ich weiß, das klingt ein bisschen merkwürdig, aber wenn Sie etwas von ihr hören, oder wenn Sie eine Ahnung haben, wo sie stecken könnte, möchte ich Sie bitten, mich anzurufen unter der Nummer …«
Jack seufzte und probierte es bei der nächsten Adresse. Es war ein sonniger Tag in Dublin, und überall um ihn herum lagen Menschen im Gras von Stephen’s Green. Enten watschelten um seine Bank herum und suchten nach heruntergefallenen Brotkrümeln. Sie schnatterten, pickten, hüpften zurück ins Wasser und lenkten ihn für einen Augenblick von wichtigeren Dingen ab. Nachdem er sich über eine Stunde bemüht hatte, sich in Dublins Einbahnstraßensystem zurechtzufinden, und immer wieder in einem Stau steckengeblieben war, hatte er schließlich in der Nähe von Stephen’s Green einen Parkplatz gefunden. Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zu seinem Termin bei Dr. Burton, und der Gedanke daran machte ihn von Minute zu Minute nervöser. Selbst unter günstigen Bedingungen sprach Jack nicht besonders gern über seine Gefühle, und wie er eine ganze Stunde lang sein Gehirn nach eingebildeten Sorgen absuchen sollte, überstieg schlicht seine Vorstellungskraft. Und das alles nur, um etwas über Sandy Shortt zu erfahren. Er war nicht Columbo, und allmählich verlor er die Lust, sich auf irgendwelchen Schleichwegen Informationen zu beschaffen.
Den ganzen Vormittag war er nun schon dabei, die Nummern aus Sandys Telefonbuch anzurufen und Nachrichten bei den Leuten zu hinterlassen, die in den letzten Tagen mit ihr in Verbindung gewesen waren. Aber er kam nicht so richtig vorwärts. Bisher hatte er sechs Nachrichten auf Band gesprochen und mit zwei Leuten persönlich geredet, die mit Informationen allerdings extrem zurückhaltend gewesen waren. Außerdem hatte er sich viel zu lange die Tiraden von Sandys Vermieter angehört, der sich furchtbar darüber aufregte, dass er diesen Monat noch kein Geld von ihr bekommen hatte. Wo Sandy abgeblieben war, schien ihn daneben wenig zu stören.
»Ich warne Sie, lassen Sie sich von ihr bloß nicht das Herz brechen«, knurrte er. »Am besten brechen Sie die Beziehung zu ihr gleich ab – es sei denn, es macht Ihnen Spaß, tagelang rumzuhängen und auf sie zu warten. Und Sie sind auch nicht der Einzige, das kann ich Ihnen sagen.« Er lachte schallend. »Lassen Sie sich von ihr bloß nichts vormachen. Die ganze Zeit bringt sie Männer mit nach Hause, weil sie denkt, das hört keiner. Aber ich wohne direkt über ihr, ich kriege alles mit. Wann sie geht und wann sie kommt – verzeihen Sie das kleine Wortspiel. Aber hören Sie auf meine Worte: In ein paar Tagen wird sie wieder auftauchen und sich wundern, worüber sich alle so ereifern. Vermutlich denkt sie, sie war zwei Stunden weg und nicht zwei Wochen. Das ist so ihre Art. Aber wenn Sie sie doch schon vorher sehen, dann sagen Sie ihr, sie soll mir umgehend das Geld schicken, sonst setz ich sie an die Luft.«
Jack seufzte. Wenn er aufgeben wollte, dann war jetzt der richtige Augenblick. Aber er konnte nicht. Er war in
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