Vermiss mein nicht
Dublin, nur ein paar Minuten entfernt von jemandem, der – so hoffte er wenigstens – besser wusste, was in Sandys Kopf vorging, als sonst irgendwer. Nein, er wollte nicht die Segel streichen. Seine Vorstellung von Sandy veränderte sich. Durch ihre Telefongespräche hatte er sich in Gedanken ein Bild von ihr gemacht: gut organisiert, nüchtern, kompetent, verliebt in ihre Arbeit, gesprächig, sympathisch. Aber je mehr er in ihrem Leben forschte, desto mehr Facetten zeigten sich. Natürlich traf sein erster Eindruck immer noch zu, aber sie wurde realer für ihn. Er jagte kein Phantom mehr, sondern eine komplexe, vielschichtige Persönlichkeit, nicht mehr nur die hilfsbereite Fremde, mit der er ein paar Mal am Telefon gesprochen hatte. Vielleicht hatte Graham Turner ja recht, und sie hatte sich nur eine Weile aus dem ganzen Trubel der Welt zurückgezogen. Aber das wusste ihr Therapeut sicher noch besser.
Gerade als er die nächste Nummer wählen wollte, klingelte sein Telefon.
»Spreche ich mit Jack?«, fragte eine Frau leise.
»Ja«, antwortete er. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Hier ist Mary Stanley. Sie haben eine Nachricht hinterlassen, wegen Sandy Shortt.«
»O ja. Hallo, Mary. Vielen Dank, dass Sie zurückrufen, obwohl meine Nachricht ein bisschen sonderbar war.«
»Ja.« Sie benahm sich genauso zurückhaltend wie die anderen. Aber es war ja durchaus verständlich, dass man einem Wildfremden mit einem gewissen Argwohn begegnete.
»Sie können mir vertrauen, Mary, ich habe keine üblen Absichten. Ich weiß nicht, wie gut Sie Sandy kennen, ob Sie mit ihr verwandt oder befreundet sind, aber lassen Sie mich zuerst etwas zu meiner Person sagen«, begann er und erzählte dann, wie er mit Sandy Verbindung aufgenommen und sich mit ihr verabredet hatte, wie er ihr an der Tankstelle begegnet war und danach den Kontakt wieder verloren hatte. Den Grund, warum er sie treffen wollte, erwähnte er nicht, denn er hatte das Gefühl, dass das unerheblich war. »Ich möchte nicht die Pferde scheu machen«, fuhr er fort, »aber ich rufe bei den Leuten an, die mit ihr in Kontakt standen, um zu sehen, ob jemand in letzter Zeit etwas von ihr gehört hat.«
»Ich habe heute Morgen einen Anruf von einem Polizisten namens Turner bekommen«, sagte Mary, und Jack war nicht ganz sicher, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. Womöglich beides.
»Ja, ich habe mit ihm gesprochen, weil ich mir Sorgen um Sandy gemacht habe.« Nachdem Jack Sandys Uhr gefunden hatte, war er noch einmal bei Graham Turner vorstellig geworden, in der Hoffnung, ihn mit dieser Neuigkeit aus der Reserve zu locken. Anscheinend hatte es geklappt.
»Ich mache mir auch Sorgen«, sagte Mary, und Jack spitzte sofort die Ohren.
»Wieso hat Graham Turner Sie denn angerufen?«, fragte Jack, womit er eigentlich meinte:
Wer sind Sie? Woher kennen Sie Sandy?
»Wer stand sonst noch auf der Liste der Leute, die Sie kontaktiert haben?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage, ohne auf seine einzugehen.
Er schlug sein Notizbuch auf. »Peter Dempsey, Clara Keane, Ailish O’Brien, Tony Watts … Soll ich weitermachen?«
»Nein, das reicht. Stammt Ihre Liste von Sandy?«
»Sie hat ihr Handy und ihren Terminkalender dagelassen. Das war meine einzige Möglichkeit, nach ihr zu suchen«, erwiderte er und versuchte, sich sein schlechtes Gewissen nicht anhören zu lassen.
»Ist irgendjemand aus Ihrer Bekanntschaft verschwunden?« Ihr Ton war nicht übertrieben freundlich, aber auch nicht unfreundlich. Sie stellte einfach eine direkte Frage, als würden dauernd Menschen verschwinden.
»Ja, mein Bruder Donal«, antwortete Jack, und wie jedes Mal, wenn er über seinen Bruder sprach, hatte er einen dicken Kloß im Hals.
»Donal Ruttle. Stimmt, ich hab in der Zeitung was über ihn gelesen«, sagte sie und schwieg dann einen Moment nachdenklich. »Die ganzen Leute auf Ihrer Liste – in all diesen Familien ist jemand verschwunden. Bei mir auch. Mein Sohn Bobby ist seit drei Jahren nicht mehr da.«
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Jack leise. Es überraschte ihn nicht, dass Sandys Kontakte aus der letzten Zeit allesamt mit ihrer Arbeit zu tun hatten. Bisher war er noch keinem einzigen richtigen Freund begegnet.
»Ach, es braucht Ihnen nicht leid zu tun, es ist ja nicht Ihre Schuld. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir alle haben Sandy angeheuert, um uns bei der Suche nach unseren Lieben zu helfen, und jetzt wollen Sie uns anheuern, dass wir helfen,
Weitere Kostenlose Bücher