Vermisst: Thriller (German Edition)
tu es auch nicht für dich, sondern für mich selbst. Vielleicht bringt es nichts. Aber einen Versuch ist es wert, falls es bedeutet, dass ich eines Tages mit unseren Kindern um die Wette laufen kann.«
Das saß. Ich schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte er.
»Ich hasse es, wenn du so tapfer und anständig bist.«
Er warf einen Blick auf seinen Bruder. »Du hättest dir anhören sollen, was PJ über mich losgelassen hat.«
Die Maschine füllte sich allmählich.
»Ev, ich dachte, du freust dich«, meinte Jesse verwirrt. »Ich will nicht aufgeben. Man hofft, solange man lebt – das sagst du doch immer.«
Doch er hatte mich gelehrt, wie leicht man alles verlieren konnte. Hinter jeder Ecke konnte die Katastrophe lauern. Jesse war durch seine Erfahrung pragmatisch und zynisch geworden. Zugleich hatte er gelernt, keine Zeit zu verschwenden und die Menschen festzuhalten, die er liebte.
»Und wenn es nicht klappt?«, fragte ich.
»So ist das Leben.«
Oder der Tod.
33. Kapitel
Die Sonne blendete mich, obwohl es geregnet hatte und die Wolken gerade erst wieder aufrissen. Die nasse Fahrbahn reflektierte das Scheinwerferlicht. Die leichte Braunfärbung der milden Luft und der kaum wahrnehmbare Smoggeschmack in meinem Mund waren fremd und zugleich vertraut. Und der Verkehr rollte tatsächlich auf der richtigen Straßenseite! Vor neunundsechzigeinhalb Stunden war ich hier gestartet. Jetzt hatte ich eine Schwester, ein Haftbefehl war gegen mich erlassen worden, und in meinem Stundenglas bebten die letzten Körnchen Sand.
Die Pfarrsekretärin im Foyer von Crescendo Ltd. trug diesmal einen leuchtend grünen Turban und ein Kreuz, das deutlich größer war als das von Schwester Cillian. Die Audioanlage spielte Start Me Up. Stirnrunzelnd betrachtete sie meine Frisur und mein Outfit. Dabei lag meine Hose, mit der ich die Rolltreppe in der Bond Station geputzt hatte, mit ihren Rissen eigentlich voll im Trend. Vermutlich erweckten wir den Eindruck, als wollten wir vorsingen und hätten uns in der Adresse geirrt: eine kleine farbige Britin, ein Gangsterrapper, ein Freak im Rollstuhl und ich als Chrissie Hynde.
»Wir sind die Pretenders«, sagte ich. »Kani Tanaka erwartet uns.«
Sie griff zum Telefon. Eine Minute später erschien die Manga-Barbie. Sie wirkte nervös.
»Wir brauchen für die nächste Viertelstunde Ihre Hilfe«, erklärte ich.
Sie führte uns nach hinten ins Archiv. Georgie starrte aus dem Fenster auf die Santa Monica Mountains, als wäre sie soeben auf dem Jupiter gelandet.
»Kann man von hier das Hollywood-Zeichen sehen?«
Kani war merklich verblüfft über den britischen Akzent. Die meisten Amerikaner können sich nicht vorstellen, dass Schwarze wie die Narnia-Kinder reden. Sie verpasste Georgie eine Limo und ließ sie auf einem der Kinobildschirme einen Film anschauen.
Ich klappte meinen Laptop auf. »Bei meinem letzten Besuch haben Sie mir erzählt, Sie würden hier seltene Aufnahmen neu bearbeiten.«
»Das stimmt.« Sie kaute an einem Fingernagel. »Worum geht’s?«
»Wir wollen in einem Kriminalfall Beweismittel sichern«, erklärte Jesse. »Außerdem wüssten wir gern, wen Sie über Miss Delaneys Besuch informiert haben.«
»Sie haben jemand angerufen, kaum dass ich weg war«, ergänzte ich. »Diese Person hat mich fünfzehntausend Kilometer von hier entfernt aufgespürt und mir ziemlich übel mitgespielt.«
Kani erstarrte. »Ich wusste ja nicht …« Sie warf einen Blick auf die Schramme an Jesses Stirn und seine aufgeplatzte Lippe.
Er lächelte freundlich. »Ich war nicht dabei. Ich bin nur der Anwalt.«
Das trug nicht im Geringsten zu ihrer Beruhigung bei.
Mein Laptop fuhr hoch. »Wir müssen eine Datei kopieren und auf DVD speichern. Leider ist sie teilweise verschlüsselt.«
Kani meinte, selbst eine ursprünglich verschlüsselte Datei müsste sich kopieren lassen, wenn sie auf meinem Laptop gespeichert war. Sie würde sie durch ein Antivirenprogramm laufen lassen, aber die einfache Übertragung auf ein anderes Speichermedium war ihrer Meinung nach unproblematisch. Zumindest war der Teil des Dossiers, den wir Rio Sanger zugedacht hatten, schon von Jax entschlüsselt worden.
Jesse gab Kani seine Firmenkreditkarte und die Rechnungsanschrift der Kanzlei. Es dauerte tatsächlich nur fünfzehn Minuten. Als Kani fertig war, händigte sie mir zwei USB-Sticks aus. Ich überließ Jesse meinen Laptop, knüpfte einen der Sticks an die Kette um meinen Hals und reichte Kani
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