Vermisst: Thriller (German Edition)
Olympic Boulevard zweigte sie ab, fuhr um den Block und parkte in einer Seitenstraße, von der aus wir das Gebäude von Crescendo im Auge hatten. Nachdem sie den Motor abgestellt hatte, wandte sie sich um und löste die Kette, mit der ich an den Ring am Fußboden gefesselt war.
»Das kann mich den Kopf kosten«, bemerkte sie.
»Und meinen Vater das Leben.« Ich streckte ihr meine Hände hin. »Bitte!«
Sie tat so, als müsste sie überlegen. »Nun, nachdem du dich freiwillig ergeben und kooperativ gezeigt hast …« Sie schloss die Handschellen auf. »Ich hoffe, das wird mir nicht noch leidtun.«
Ich kletterte auf den Vordersitz. »Wenn mein Plan funktioniert, wird Rio Sanger in Kürze hier anrauschen.«
Lily schenkte mir aus ihrer Thermoskanne einen Becher Kaffee ein, den ich in wenigen Sekunden geleert hatte.
»Koffeinentzug?«, fragte sie.
Mein ganzer Körper vibrierte, als stünde ich unter Strom. Ich brauchte noch eine Tasse. Am liebsten hätte ich mich an eine Steckdose angeschlossen, um meine Akkus aufzuladen.
»Deine Vorgehensweise kann ich definitiv nicht billigen«, stellte sie fest.
»Aber auf ein bisschen Verständnis kann ich doch hoffen.«
»Chica, du hast mein volles Verständnis, aber die Entscheidung über die Strafverfolgung liegt bei der Staatsanwaltschaft, nicht bei mir. Gegen dich wurde ein Haftbefehl wegen unerlaubten Entfernens vom Ort eines Verbrechens erlassen.«
Schlimm genug. Den falschen Pass, den Jax mir besorgt hatte, erwähnte ich besser gar nicht erst. Auf dem Boulevard rollte der Verkehr an uns vorüber. Jesses Pick-up war nicht mehr zu sehen. Vermutlich wartete er in einiger Entfernung.
»Was haben deine Ermittlungen noch ergeben?«, fragte ich. »Habt ihr die Telefonanrufe des Kopfgeldjägers zurückverfolgt?«
»Ich werde gleich mal nachfragen, was es Neues gibt.«
Sie erkundigte sich telefonisch nach dem letzten Stand. Ich warf einen Blick auf die Uhr.
»Sie melden sich in einer Stunde bei mir. Wenn du ständig auf die Uhr schaust, vergeht die Zeit auch nicht schneller.«
»Für meinen Vater wird es eng.« Ich hielt ihr meinen Becher hin. »Uno más. Und schnell bitte.«
Während sie mir nachschenkte, spähte ich hinüber zu dem überfüllten Starbucks in der Lobby des Jenkins-and-Strachan-Hochhauses auf der anderen Straßenseite, wo PJ und Georgie saßen. Die Zeit hatte nicht ausgereicht, um die beiden zu einem Nachrichtensender zu schaffen, aber zumindest befanden sie sich im Erdgeschoss einer großen Rechtsanwaltskanzlei.
Auf meiner Uhr waren fünfzehn Minuten verstrichen, als der schwarze Mercedes vor dem Crescendo-Gebäude stoppte. Eine Frau stieg aus und marschierte auf den Eingang zu.
Lily richtete sich auf. »Ist sie das?«
Das schwarze Haar war zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie trug einen Zobelmantel, eine hautenge Jeans mit Schlangendruck und Stiefel mit mörderisch spitzen Absätzen.
»Das ist sie«, bestätigte ich.
Sie griff zum Telefon. »Blackburn, sie ist hier.« Sie lauschte. »Verstanden.« Damit beendete sie die Verbindung. »Wie lang wird sie deiner Schätzung nach brauchen?«
»Fünf, höchstens zehn Minuten.«
Zwölf Minuten dauerte es, bis Rio Sanger aus dem Gebäude kam und in ihren Mercedes sprang. Sie fuhr los und war innerhalb kürzester Zeit außer Sicht.
Lily ließ den Motor an und telefonierte mit Jesse. »Sie fährt in deine Richtung.« Nachdem sie seine Antwort abgewartet hatte, legte sie auf. »Er hat sie.«
Wir bogen in die Century Park East ein. Vor uns reihte sich der Pick-up fünfzig Meter hinter dem Mercedes in den Verkehr ein.
Dann raste plötzlich ein brauner Kombi an uns vorbei. Der Fahrer hupte und bedeutete uns, an den Straßenrand zu fahren. Dann beschleunigte er, setzte sich vor den Pick-up und bremste, um Jesse zum Anhalten zu zwingen.
Ich war fassungslos. Drew Farelli! Lily fuhr ungerührt weiter, während Farelli aus dem Auto sprang und zu dem Pick-up lief. Jesse beugte sich mit erhobenen Händen aus dem Fenster. Wir rauschten vorbei.
»Was macht der denn hier?«, fragte ich.
»Er ist spät dran.« Lily warf mir ihr Handy zu. »Sag Jesse, er soll sich wieder einkriegen.«
»Was soll das heißen? Hast du etwa Farelli angerufen?«
»Ja. Ich arbeite mit der Bundesanwaltschaft zusammen.«
Das raubte mir die letzte Hoffnung. »Lily, was ist, wenn er das FBI ruft und mich verhaften lässt?«
»Jetzt werd nicht dramatisch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis allgemein bekannt wird, wo du bist.
Weitere Kostenlose Bücher