Vermisst: Thriller (German Edition)
der Luft.
»Jesse, du musst das Seil lösen«, sagte mein Vater.
Er ließ Jesses rechtes Handgelenk los und fasste mit beiden Händen nach Jesses linkem Arm. Jesse griff nach unten und zerrte am Seil. Ich hörte, wie er verzweifelt nach Atem rang.
»Ich brauch beide Hände, Phil. Halt dich am Wagen fest.«
Das konnte nicht klappen. »Ich komme«, schrie ich.
»Auf keinen Fall«, keuchte mein Vater. »Dann stürzen wir alle ab.«
Panisch sah ich mich nach einer Stange oder einem anderen Werkzeug um.
Ein Hafenarbeiter stieg auf den Gabelstapler. »Geben Sie mir das Ende des Seils, ich binde es fest. Sie bleiben, wo Sie sind, und sichern.«
»Phil, halt dich am Rahmen der Windschutzscheibe fest«, hörte ich Jesse sagen.
»Das kann ich nicht.«
Jesse wurde lauter. »Hörst du schlecht? Du musst Evan am Samstag zum Altar führen!«
»Ich fürchte, das wird nichts mit Samstag«, erwiderte mein Vater.
»Halt dich fest, Dad!«, brüllte ich verzweifelt. »Du darfst nicht aufgeben.«
In seinem Blick lag finstere Entschlossenheit. Ich schlang meine Arme fest um die Holme des Gabelstaplers und machte mich bereit, Georgie aufzufangen, sobald es Jesse gelang, das Seil zu befreien. Das Ächzen des Pick-ups klang immer bedenklicher. Unten am Kai stürmte der Hafenarbeiter auf einen Poller zu, an dem er das Seil befestigen wollte.
»Jesse, es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte mein Vater.
»Halt dich fest!«, brüllte Jesse.
»Mach schon.«
Jesse stöhnte vor Anstrengung. »Phil, das kann ich nicht.«
Natürlich konnte er. Er war derjenige, der hundert Kilo mit einer Hand stemmen konnte.
»Blackburn«, schrie ich, »du musst.«
»Doch, Jesse, du kannst es. Lass mich los«, sagte mein Vater ruhig.
Mein Kopf fuhr herum. Mein Vater hatte ganz bewusst seinen Griff gelöst; nur Jesses eiserner Griff bewahrte ihn vor dem Fall.
»Mit meinem Gewicht haben wir keine Chance. Wenn du mich nicht loslässt, ist es für uns alle aus.«
»Nein, Dad! Jesse, halt ihn fest.«
Jesse konnte vor Anstrengung kaum sprechen. »Phil, das … überlebst du nicht. Wenn dich der Sturz nicht umbringt, erwischt dich der Pick-up.«
»Und wenn der Wagen abstürzt, solange das Seil klemmt, reißt er Evan mit sich. Entweder ich oder wir alle.«
Das Blut rauschte mir in den Ohren. »Nein! Dad, ich schaff das, bis die Männer unten das Seil festgemacht haben. Wir kriegen euch da raus. Jesse, du darfst nicht loslassen!«
»Phil, ich werd das nicht tun«, sagte Jesse.
»Dann sterben meine Mädchen«, sagte mein Vater. »Lass los. Rette Georgie!«
»Nein!«, schrie ich.
»Ich weiß, was ich von dir verlange«, sagte mein Vater. »Vergib mir.«
»Verdammt noch mal, Phil!«, keuchte Jesse.
»Nicht, Jesse, nicht!«, brüllte ich.
»Für meine Töchter. Jetzt!«
In seinem Blick brannte eine Gewissheit, die über alles hinausging, was ich von ihm kannte. Die Welt um mich herum erstarrte. Und mit einer winzigen Bewegung, die mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen wird, löste Jesse seinen Griff.
Für einen Augenblick hing mein Vater in der Luft und blickte Jesse unverwandt an. Dann fiel er.
Ich hörte unzusammenhängende Schreie und wusste, dass es meine eigenen waren. Jesse lockerte das Seil. Zwei Hafenarbeiter eilten mir zu Hilfe und hievten Georgie und Jesse, der sich an das Seil gehängt hatte, durch das Fenster. In diesem Augenblick schlitzte der Zinken die Seitenwand der Ladefläche endgültig auf und zerschmetterte die Rücklichter. Im nächsten Moment stürzten anderthalb Tonnen Metall auf das kalte schwarze Wasser des Hafens hinunter, in dem mein Vater lag.
Ich leistete erbitterten Widerstand, als man mich vom Gabelstapler holte. Georgie klammerte sich schluchzend an Jesse. Überall wimmelte es von Polizei. Schließlich befreite ich mich aus dem Griff der Hafenarbeiter, kroch an den Rand des Kais und starrte nach unten. Das Polizeiboot kreiste langsam und suchte die Oberfläche mit einem Scheinwerfer ab, aber es war nichts mehr zu sehen. Ich wartete und wartete in dem gleißenden Licht. Schließlich brachte mich jemand vom Rand des Kais weg. Vielleicht war es Lily, ich erinnere mich nicht. Georgie war in Jesses Armen zusammengebrochen. Beide klammerten sich in ihrer Verzweiflung aneinander. Eine Ewigkeit lang beobachtete auch Jesse das Wasser, bis es schließlich keinen Zweifel mehr gab. Dann erst wagte er es, mich anzuschauen.
Vielleicht sagte er etwas. Ich spürte nichts, sah nichts. Irgendwie rappelte ich mich auf, trat
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