Vermisst: Thriller (German Edition)

handelte. All diese Steuerberater, Anwälte und Sekretärinnen in ihren blauen Nadelstreifen und braunen Schuhen hatten einfach keinen Stil. Da waren die Italiener ganz anders. Nur wenn es um Sex und Alkohol ging, waren diese vertrockneten Gestalten kaum zu bremsen. Nur gut, dass Waffen in Großbritannien so schwer zu bekommen waren. Waren die Engländer erst mal in Fahrt, wurden sie zu Tieren.
    Sein Atem bildete Dampfwölkchen in der kalten Luft, und er wickelte sich fest in seinen schwarzen Mantel ein. Hoffentlich hielt man ihn für einen Schaulustigen. Oder starrten ihn die Leute schon an? Er zog sich in den Schatten des Gebäudes zurück und spähte auf die Uhr. Die Feuerwehr musste gleich da sein. Shiver blieb nicht viel Zeit.
    Es dauerte noch einmal dreißig Sekunden, bis sie auftauchte.
    Sie biss sich auf die Lippen und schaute immer wieder auf einen Zettel, als hätte sie dort eine Adresse notiert. Dann schlug sie die Hand vor den Mund und setzte ein hilfloses Gesicht auf. Zögernd wandte sie sich an eine junge Frau, deren offenherzige Kleidung die Sekretärin verriet. Stammelnd zeigte Shiver ihr den Zettel, wobei sie darauf achtete, dass ihr das Haar in die Augen fiel, die ihr wahres Alter verraten hätten. Aus der Ferne wirkte sie tatsächlich wie eine durchgefrorene, verängstigte Zwölfjährige. Diese Nutten waren die geborenen Schauspielerinnen.
    Die Sekretärin nahm Shiver fürsorglich am Arm und rief einem Mann etwas zu, der am anderen Ende der Gruppe vor dem Gebäude stand. Er war groß und dünn und hatte karottenrotes Haar, das im Wind flatterte. Sein Anzug war ihm an den Schultern zu breit und wurde durch eine absolut unpassende lavendelfarbene Krawatte ergänzt. Als die Sekretärin mit dem vorgeblichen Schulmädchen auftauchte, spitzte er die Lippen und schüttelte ihr steif die Hand. Die Kleine war scheinbar zu verängstigt, um ihn anzusehen, aber als er nach ein paar Worten zu der Sekretärin auf das qualmende Bürogebäude zeigte, nickte Shiver dankbar. Vermutlich hatte er vorgeschlagen, sie zu einer heißen Schokolade in ein Café einzuladen, wo sie sich in Ruhe unterhalten konnten. Er legte ihr die Hand auf die Schulter – eine tröstende Berührung ohne sexuelle Hintergedanken. Der Mann würde noch sein blaues Wunder erleben.
    Die Sekretärin blickte den beiden beunruhigend lange nach, aber dann traf die Feuerwehr ein, und sie wandte sich ab.
    Nur Christian bemerkte, wie Shiver Jeremy Goodhew am Arm zupfte und in eine Gasse zog.

30. Kapitel
     
     
     
     
    »Jesse.« Endlich. »Ich sitze in einem Taxi und bin nach Mayfair unterwegs. Wo steckst du?«
    »In der Nähe, aber ich komm nicht schnell genug voran. Christian Sanger ist hinter Georgie her.«
    Das hatte mir gerade noch gefehlt. Mich hielt es kaum auf meinem Sitz, obwohl der Taxifahrer mit ungerührter Miene wie Steve McQueen in Bullitt durch die Bayswater Road jagte.
    »Was ich dir noch sagen wollte«, fuhr Jesse fort, »das kleine Monster hatte einen Ohrhörer und ein Trackinggerät.«
    Ganz schlecht. Das Taxi schleuderte um eine Ecke, und ich rutschte über den halben Sitz, bevor ich mich irgendwo einkrallen konnte. Ein wunderbares Erlebnis für meinen Reiseführer Städte der Welt in sechzig Minuten.
    »Shiver hatte sich in Georgies Zimmer geschlichen. Vielleicht hat sie ihr Handy manipuliert und ihr eine Wanze in den Rucksack gesteckt.« Ich musste demnach davon ausgehen, dass Shiver jedes Wort mitgehört hatte, das Georgie mit mir gewechselt hatte. »Wahrscheinlich weiß sie genau, wo Georgie hinwill.«
    »Wir sind nur wenige Minuten von der Kanzlei entfernt. Ich tu, was ich kann.«
    »Sei vorsichtig.«
    »Das werd ich, aber …« Seine Stimme wurde leiser. Im Hintergrund herrschte ein fürchterlicher Lärm.
    »Aber?«, hakte ich nach.
    »Ich hab hier ein kleines Problem.« Damit hängte er auf.

     
    Jesse klammerte sich auf der überfüllten Rolltreppe an die Gummi-Handläufe und fuhr nach oben. »Bist du noch da?«
    PJ spähte in die Tiefe. »Wo soll ich sonst sein?«
    Am Fuß der Treppe war ein Wachmann aufgetaucht. »Verlassen Sie sofort die Rolltreppe!«
    »In Ordnung«, rief Jesse zurück. »Sobald ich oben bin.«
    Der Mann zückte ein Funkgerät und stapfte auf die Rolltreppe zu. »Das ist verboten!«
    »Was jetzt?«, fragte PJ.
    Jesse grinste. »Winken!«
    Sie drehten sich um und winkten huldvoll.
    Der Mann sprang auf die Rolltreppe, aber Jesse war schon oben. Das Funkgerät knatterte hinter ihnen drein, als sie sich