Vermisst: Thriller (German Edition)
durch die Menge zum Ausgang drängten. Bevor der Wachmann sie aufhalten konnte, schlugen die Türen der Station Bond Street hinter ihnen zu.
PJ warf einen Blick nach drinnen. »Gleicht das meine schlechten Fahrleistungen aus? Sind wir jetzt quitt?«
»So gut wie.«
Sie waren in einer Seitenstraße gelandet, rechts von ihnen verlief eine mehrspurige Straße mit großen Warenhäusern.
»Das ist die Oxford Street.« Jesse drehte die Karte um und deutete mit dem Kopf in die andere Richtung. »Die Kanzlei liegt etwa dreihundert Meter südlich von hier.«
»Sollen wir uns ein Taxi suchen?«, fragte PJ.
»Das dauert zu lang. Nimm die Beine in die Hand.« Er wendete den Rollstuhl und fuhr los.
PJ folgte ihm. »Was kommt als Nächstes? Fallschirmspringen?«, keuchte er.
Jesse dachte daran, wie PJ ihn vom Bahnsteig in den Zug und die vielen Treppen hinauf und hinunter gewuchtet hatte.
»Das war harte Arbeit, ich weiß. Danke«, sagte er.
»Lieber Bruder, du hast echt eine Schraube locker.«
»Das nennt man Improvisationstalent. Uns geht die Zeit aus.«
»Glotzen die Leute eigentlich immer so blöd?«, fragte PJ, während er im Schweinsgalopp neben dem Rollstuhl herjagte.
»Immer.«
Das Viertel war mit den massiven roten Backsteinhäusern stark viktorianisch geprägt. Nach wenigen hundert Metern gelangten sie an einen Platz mit einer baumbestandenen Rasenfläche und prächtigen Gebäuden im georgianischen Stil. Jesse blickte auf die Karte. Würde Sanger hier wirklich einen Anschlag wagen?
»Was ist denn da los?« PJ deutete auf einen Menschenauflauf etwa hundert Meter jenseits des Platzes. Vor einem Bürogebäude parkten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr.
Jesse faltete seine Karte zusammen und stopfte sie in die Tasche. »Das sieht nicht gut aus. Komm mit.«
Außer Atem hielt Christian das Handy ans Ohr. »Erledigt?«
»Ja«, sagte Shiver.
»Was …?«
»Zwanzig Einheiten Bolus mit einer Insulin-Fertigspritze. Er hat gar nichts gemerkt.«
»Ist er …«
»Ja. Aber das muss dich nicht kümmern. Geh in Position.«
»Hast du …?«
»Natürlich hab ich das Mädchen angerufen. Ich habe mich als Jeremy Goodhews Sekretärin ausgegeben und mich dafür entschuldigt, dass die Büros wegen des Feuers unbenutzbar sind. Stattdessen wird sich Mr. Goodhew auf der Straße mit ihr treffen. Er ist jung, schlank, hat schwarzes Haar, ein freundliches Lächeln und trägt einen schwarzen Mantel. Mein britischer Akzent war perfekt. Das Kind hat keine Ahnung.«
Sie redete mit ihm, als wäre sie seine Mutter. Was bildete sie sich eigentlich ein?
»Ich bin schon unterwegs. Wir treffen uns auf dem Platz«, sagte er.
»Ich brauch noch fünf Minuten, um hier aufzuräumen und mich umzuziehen. Das Mädchen und die Leute von der Kanzlei haben mich in der Schuluniform gesehen. Die muss ich entsorgen.«
Er rieb sich mit der Hand über die Brust. Sein Herz raste, und sein Atem stockte in der eiskalten Luft. Die Gier war so übermächtig, dass er am liebsten geschrien hätte.
Die Augen auf den Menschenauflauf vor ihnen gerichtet, trabte PJ neben Jesses Rollstuhl her. »Was hast du vor?«
Welche Optionen hast du überhaupt?, hieß das wohl im Klartext. Jesse legte die Hände auf die metallenen Greifreifen, die sich trotz der fingerlosen Handschuhe eiskalt anfühlten.
»Noch was zu diesem Sanger«, meinte PJ. »Der scheint auf Speed zu sein.«
Jesse musterte ihn fragend.
»Dieses nervöse Zucken. Außerdem hat er ständig mit den Zähnen geknirscht. Das ist typisch für Meth-User. Wenn er nach Chrystal süchtig ist, leidet er vermutlich unter Verfolgungswahn und traut niemandem.«
»Bleib hier und pass auf«, sagte Jesse nach kurzer Überlegung. »Da drüben ist das Marriott. Am besten postierst du dich auf der Treppe. Ich fange ihn auf dem Platz ab.«
»Besonders unauffällig bist du ja nicht gerade.«
»Dann muss ich das eben zu meinem Vorteil nutzen.«
Er rollte über die Straße auf die smaragdgrüne Rasenfläche zu, wo die Bäume ihre kahlen Äste in den Himmel reckten.
Unterdessen lehnte sich PJ im Seiteneingang des Marriott an die Wand und vergrub die Hände in den Achselhöhlen, um sie zu wärmen.
Jesse steuerte auf das Roosevelt-Denkmal in der Mitte des Platzes zu. Merkwürdig, dass der Krüppel, der die USA im Zweiten Weltkrieg geführt hatte, hoch aufgerichtet dastand. Die Realität war wohl nicht repräsentativ genug gewesen. Er behielt seine Umgebung scharf im Auge und vertraute auf sein
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