Verneig dich vor dem Tod
beurteilen, wie ich es vorfinde.«
»Beurteilen nach Leuten wie Cild und Aldhere? Sie sind nicht typisch für mein Volk.«
»An ihnen richte ich mein Denken nicht aus. Ich beobachte eure Bräuche und eure Rechtsprechung. Im ganzen erscheint euer Volk ungestüm und unerfahren in zivilisierter Lebensweise. Vielleicht müßte die Neigung zur Führerschaft, von der du sprachst, ausgeglichen werden durch das Streben der einzelnen Menschen nach einem höheren Stand.«
Eadulf errötete vor Ärger.
»Ich meine, das ist deiner nicht würdig, Fidelma«, sagte er ärgerlich. »In deinem eigenen Land gibt es auch Krieg, Mord, Haß und Eifersucht, trotzdem verurteilst du es nicht als barbarisch.«
»Weil wir ein Rechtssystem und ein Sozialsystem entwickelt haben, in dem solche Dinge nicht zur normalen Lebensweise gehören. Ich fürchte, daß in deinem Land, Eadulf, selbst die Gesetze von der Brutalität des Lebens geprägt sind.«
Eadulf antwortete nicht. Es war klar, daß er zutiefst verletzt war. Fidelma unterdrückte einen ärgerlichen Seufzer, als sie merkte, zu welchem Zorn sie ihn gereizt hatte. Doch sie wußte, daß seine Erregung zwar rasch und heftig aufflammte und hell brannte, sich aber ebenso rasch wieder legte und er sich bald beruhigte. Eadulf konnte keinen langen Groll hegen.
Sie waren eine Weile schweigend weitergeritten, als sich ihre Einschätzung seines Charakters als richtig erwies.
Es wurde dunkel, obwohl es noch nicht spät war, denn der Wintertag war kurz. Soweit Eadulf wußte, mußten sie bald in die Gegend kommen, die Hob’s Mire hieß, und ihn überkam ein gewisses Bangen. Er richtete seinen Blick darauf aus, die irrlichternde blaue Flamme zu erspähen. Sein logischer Verstand kannte die Erklärung für das
ignis fatuus,
doch er erinnerte sich auch an die Legenden vom »Leichenfeuer«, wie es sein Volk nannte.
»Hinter den Bäumen da vorn«, warnte er leise, »liegt die Abtei. Von jetzt an müssen wir uns vorsichtig bewegen.«
Sie nickte. »Ich meine, wir sollten hinein denselben Weg nehmen, auf dem wir herausgekommen sind.«
»Ich wünschte, wir hätten noch mehr Tageslicht«, brummte er. »Ohne Licht wird der Eingang schwer zu finden sein.«
Er starrte angespannt in das Dunkel vor ihnen, und plötzlich berührte er ihren Arm. Sie wollte ihn fragen, dochdann sah sie, daß er den Finger an die Lippen gelegt hatte. Sie wartete, und dann zeigte er nach vorn.
»Ich glaube, da hat sich was bewegt«, flüsterte er. »Bei den Bäumen halten ein paar Reiter.«
»Reiter?« fragte sie leise. »Kannst du sehen, was das für Männer sind?«
»Nicht von hier aus.«
»Ein merkwürdiger Ort für einen Treffpunkt.« Plötzlich stieg sie ab. »Komm, wir lassen unsere Ponys hinter den Bäumen dort, ein Stück entfernt vom Weg. Dann können wir vorgehen und mehr erkennen.«
»Ist das klug?« fragte Eadulf. »Es sind mehrere Männer, und wahrscheinlich sind sie bewaffnet.«
Fidelma lächelte in der Dunkelheit. »Ich halte es für klug, und wie Phädrus sagt, ›Klugheit ist immer stärker als bloße Gewalt‹. Komm.«
Eadulf stieg widerwillig ab, führte die Ponys in den Schutz der Bäume und band sie an dichten Büschen fest. Dann kam er zurück, und gemeinsam schlichen sie auf dem Weg weiter.
»Wir sollten uns mehr im Wald halten«, schlug er beunruhigt vor, nachdem sie ein Stück vorangekommen waren. »Es ist zwar dunkel, aber der Schnee bietet uns keine Deckung.«
Sie nickte rasch und bog nach rechts ab zu einem bewaldeten kleinen Hügel, von dem aus sie den Treffpunkt überschauen könnten. Sie fanden Schutz hinter einigen Felsblöcken nur wenige Schritt von der Gruppe entfernt und konnten leicht das halbe Dutzend Reiter erkennen, die dort, fest eingehüllt gegen die Kälte, hielten.
Die erste Stimme, die sie hörten, ließ Eadulf erschauern. Er kannte sie, wenngleich sie Fidelma fremd war.
»Nun, Bruder Willibrod? Wie lange noch?«
Es war Abt Cild selbst.
Die Stimme, die Antwort gab, war Fidelma jedoch sehr vertraut.
»Sie müßten bald hier sein.« Das war der einäugige
dominus
der Abtei.
Eadulf beugte sich vor und brachte seine Lippen an Fidelmas Ohr.
»Der erste Sprecher war Cild«, flüsterte er, damit sie wußte, mit wem Bruder Willibrod redete.
»Wenn Bruder Higbald nicht in ein paar Minuten hier ist, kehre ich zur Abtei zurück. Es ist kalt und dunkel, und wir müssen uns um einen wichtigen Gast kümmern.«
»Mach dir keine Sorgen. Lord Sigeric wird sich noch eine Weile von der
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